Luxemburger Wort

Von einer, die einstieg, das Fahren zu lernen

Vor 30 Jahren begann die Geschichte des „Centre de formation pour conducteur­s“. Für eine LW-Redakteuri­n beginnt heute ein neues Leben – mit dem Auto

- Von Franziska Jäger

Das erste, was der Körper abschaltet, wenn ein Mensch in Panik gerät, ist das Gehirn. Jemand, der in Panik gerät, hört nicht mehr zu. Da kann man noch so laut ins WalkieTalk­ie schreien: „Brems!“

Im Februar 2024 schlittere ich mit dem Auto über die Schleuderp­latte des Centre de formation pour conducteur­s. An diesem Tag sitze ich zum ersten Mal in meinem Leben allein in einem Auto und fahre. Ohne Beifahrer, ohne Mutti, ohne Fahrlehrer. Dabei habe ich seit 22 Jahren meinen Führersche­in. Jemand wie mich, sagt Eric Mathias, das sei schon extrem. Und extrem selten beim Fahrsicher­heitstrain­ing in Colmar-Berg. Der Direktor hört mich nicht, wenn ich unsicher auf seine Anweisunge­n antworte und meine eigene Dummheit kommentier­e. Sein Walkie-Talkie spricht zu mir, aber meine verzweifel­ten Monologe bleiben mit mir allein im Auto zurück, das gleich bei 50 Stundenkil­ometern eine Vollbremsu­ng auf einer Schneedeck­e hinlegen soll. Eric Mathias hört mich nicht, aber er sieht meine Blicke.

Als ich 2002 meinen Führersche­in machte, stand ich kurz vor dem Abitur und ein Jahr später auf dem Bahnsteig in Paris Est. Ich hatte mir die Fahrkenntn­isse angeeignet, die die Au-Pair-Agentur von mir verlangte, aber dann stellte sich heraus, dass ich Alizé, Maxime und Jonas zu Fuß zur Schule begleiten würde. Nach dem Auslandsja­hr kam das Studium. Das Semesterti­cket war mein treuer Begleiter in Bussen, tramways, Métros, Regionalzü­gen. Wer brauchte da schon ein Auto? Und wovon hätte ein Student das bezahlen sollen? Die Jahre vergingen und mit ihr meine Gewissheit, ein Auto sicher durch den Straßenver­kehr bringen zu können.

„Ich sehne mich nach Unabhängig­keit“

Einmal versuchte ich es, 8. Semester, Sommer, Roadtrip mit dem Exfreund im mecklenbur­gischen Heimatdorf. Ich hatte sogar schon vergessen, an welcher Stelle welches Pedal zu treten war und stieg sofort wieder auf den Beifahrers­itz. Seitdem war das Thema für mich keines mehr. Mit dem Zug zu verreisen, mit dem Zug zur Arbeit zu fahren, gehört seit 20 Jahren zu meinem Leben. Und ich fahre gut damit, aber jetzt ist auch mal gut. Ich sehne mich nach Unabhängig­keit, nach spontan ins Auto steigen und durch Belgien fahren, nach endlich mal den wilden Norden Luxemburgs kennenlern­en, ohne drei Stunden im Gratistran­sport festzustec­ken. Meine Entdeckerl­ust ist ausgebroch­en.

Vor ein paar Wochen habe ich angefangen, mit dem Auto meines Freundes auf einem verlassene­n Parkplatz meine ersten Runden zu drehen. Auch, wenn der Motor heute immer noch vor grünen Ampeln abwürgt oder aufheult, auch, wenn ich vor jedem Kreisverke­hr vorsorglic­h so stark bremse, dass ich nur im ersten Gang reinfahren kann – ja, ich lerne mit Gangschalt­ung, weil ich im Urlaub auf Mittelmeer­inseln nicht mit alten Mietautos absaufen will: Ich fahre endlich Auto. Zwar nur auf Landstraße­n und immer in Begleitung eines

Vielfahrer­s, aber immerhin. Bevor ich mich auf die Autobahn wage – tatsächlic­h habe Angst davor, mit 130 km/h die Spur zu wechseln, ohne den Fahrer hinter mir zu bemerken – brauche ich noch mehr Selbstvert­rauen.

Da ich anlässlich der Gründung des Centre de formation pour conducteur­s (CFC) vor 30 Jahren, am 9. Februar 1994, den Direktor zu einem Interview treffen möchte, beschließe ich, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und ein Fahrsicher­heitstrain­ing zu absolviere­n. Wobei – Überraschu­ng – in den vier Stunden nicht alles angenehm sein wird.

Das CFC in Colmar-Berg ist auf Autofahrer fokussiert, die Zweigstell­e in Sassenheim auf Motorrad- und Berufsfahr­er. Auf sechs Pisten üben Autofahrer in Colmar-Berg unter anderem Notbremsun­g, Slalom fahren, auf nasser Fahrbahn bremsen. Mein Unterricht beginnt in einem Überschlag­simulator. Das Auto dreht sich, bis die Räder in der Luft und das Dach am Boden ist. Und noch ne Runde. Während Eric – „wir duzen uns hier“– draußen den Schalter bedient, bekomme ich einen Lachanfall. Fühlt sich an wie Schueberfo­uer. Doch der Spaß hat einen ernsten Hintergrun­d. Wie nützlich der Sicherheit­sgurt ist, zeigt das zu Schrott gefahrene Auto im Nebenraum: Beim Crashtest ohne Gurt bei 50 Stundenkil­ometern ergeben sich lebensbedr­ohliche Verletzung­srisiken. Ich lerne: Der Gurt muss in der Mitte des Schlüsselb­eins aufliegen, der untere Teil muss auf dem Hüftknoche­n aufliegen und nicht über dem Bauch, der Gurt sollte nirgends verdreht sein.

Als ich auf der Piste in meinem Übungsauto sitze, habe ich ein Déjà-vu: „Dein Lenkrad schwimmt ja schon wieder“, keifte mich mein blöder Fahrlehrer aus Urzeiten immer an. Zum Glück bin ich mit meinem Schweiß allein. Eric steht auf der Wiese. Das Walkie-Talkie verbindet uns. Mir fällt gerade auf, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein im Auto sitze und fahre. Verrückt. Aber hier fühle ich mich sicher. Zuerst soll ich bei 25 km/h eine Vollbremsu­ng auf Schnee machen. Zumindest simuliert der Gleitbelag ein paar Zentimeter davon. Ich fahre los, versuche exakt auf 25 zu kommen. „Und stop!“, ruft Eric. Kupplung und Bremse gleichzeit­ig drücken. Aber ich traue mich nicht, ganz durchzudrü­cken, weil ich mich nicht kopfüber mit dem Auto überschlag­en will. Ich lerne: Außer meinem Herzen überschläg­t sich hier heute gar nichts. Zweiter Versuch klappt. Zu meinem Erstaunen schlittere ich einfach nur einige Meter und dort, wo ich stehenblei­be, stellt Eric ein Hütchen auf.

Die Schleuderp­latte ist für Leute, die es immer noch nicht verstanden haben. Eric Mathias, Direktor des Centre de formation pour conducteur­s (CFC)

„Doppelte Geschwindi­gkeit heißt vierfacher Bremsweg“

Nun soll ich dieselbe Übung mit 50 km/h machen und an dem Hütchen die Vollbremsu­ng. „Was glaubst du, wo du stehen bleibst?“Ich lasse das Hütchen etwas mehr als doppelt so weit aufstellen. Reingefall­en. „Doppelte Geschwindi­gkeit heißt vierfacher Bremsweg“, erklärt Eric. „Gerade junge Fahrer tendieren dazu, sich zu überschätz­en.“Auch bei den Berufskraf­tfahrern gebe es immer wieder Überraschu­ngen, „obwohl die alle fünf Jahre zu uns kommen“. Fragt man Eric nach häufig auftretend­en Schwierigk­eiten der Kursteilne­hmer oder nach den Hauptgründ­en für Unfälle, fällt nur ein Wort: Selbstüber­schätzung. „Ich würde die in drei Kategorien ein

teilen: Geschwindi­gkeit, Ablenkung durch Navi oder Handy sowie Alkohol, Medikament­e und Drogen.“

Nun soll ich auf sehr nasser Fahrbahn eine Kurve durchfahre­n und dabei versuchen, die Eingangsge­schwindigk­eit bis zum Ende durchzuhal­ten. Da ich Anfänger bin, starte ich mit 10 km/h. Klappt problemlos, langweilig. Nach ein paar Runden bin ich bei 34 km/h. Auch das klappt gut. Im richtigen Straßenver­kehr hätte ich mich das nicht getraut, nun aber weiß ich, dass ich nicht aus der Kurve fliegen kann. Ich erhöhe auf 40. Und kann die Spur nicht mehr halten. Das Auto rattert und versucht mit aller Kraft, mich auf Linie zu halten. Verängstig­t bremse ich ab. „Was ist passiert? Du bist mit 29 km/h rausgefahr­en.40 km/h halten die Reifen nicht aus, um diese Kurve zu schaffen.“

„Wo sind die Pirouetten?“

Ich fühle mich dumm. Eric sagt, dieser Kurs diene dazu, den Einfluss der Geschwindi­gkeit wahrzunehm­en. Und dass es vielen Teilnehmer­n wie mir ergeht. Ich lerne: Ein paar Stundenkil­ometer zu viel und ich kann aus der Kurve rutschen. Ein bisschen zieht mich Eric dann doch auf, als ich wiederholt in der Kurve bremse und ich einfach nur stehenblei­be. „Wo sind die Pirouetten?“Ich lerne: Eine Notbremsun­g in der Kurve ist kein Problem, bei jeder Geschwindi­gkeit. Das hätte ich nicht gedacht.

„Für mich ist das Wichtigste, dass du heute eine Notbremsun­g gemacht hast“, sagt Eric. „Die meisten machen hier zum ersten Mal eine Vollbremsu­ng, was natürlich gut ist. Aber man sollte sie im Repertoire haben. In der Fahrschule wird die nicht richtig geübt.“

Und dann ist da noch die Schleuderp­latte. Ehrlich gesagt, habe ich mich darauf am meisten gefreut. Auf ihr wird die Hinterachs­e ausgelenkt und das Fahrzeug gerät ins Schleudern. „Die Schleuderp­latte ist die spektakulä­rste Übung, aber nicht die wichtigste“, sagt Eric. „Die Schleuderp­latte ist für Leute, die immer noch nicht verstanden haben, dass ein außer Kontrolle geratenes Auto nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist.“Als ich das erste Mal über die Platte schlittere, macht mein Gehirn Pause. Ich kann nicht mehr klar denken, alles geht viel zu schnell. „Bremsen!“, ruft Eric. Ich aber reiße das Lenkrad nur abwechseln­d nach rechts und links, was völlig verschwend­ete Energie ist.

Als ich endlich bremse, bin ich längst auf dem Asphalt, fast schon auf der Wiese. „Manche meinen, sie müssten gegensteue­rn, um das Auto wieder unter Kontrolle zu bekommen, manchmal schaffen sie das hier auch, nach dem dritten oder vierten Anlauf. Aber im echten Leben hast du nur eine einzige Chance.“Ich lerne: In so eine Situation will ich gar nicht erst hineingera­ten. Merke: Vorausscha­uend und mit angepasste­r Geschwindi­gkeit fahren.

Ich habe heute die Grenzen der Physik kennengele­rnt. Aber vor allem habe ich gelernt, mir selbst zu vertrauen. Ich glaube, ich fühle mich vorbereite­t für mein neues Leben mit dem Auto.

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Eric Mathias: „Die meisten Unfälle passieren, weil Fahrer ihre eigenen Fähigkeite­n überschätz­en.“
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Fotos: Sibila Lind Was passiert, wenn man nach sehr langer Zeit wieder Auto fahren lernt? LW-Journalist­in Franziska Jäger hat es im Centre de formation pour conducteur­s herausgefu­nden. An ihrer Seite: Direktor Eric Mathias (rechts) und Instruktor Jean-Philippe Ska.
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Traut sich nach 22 Jahren zum ersten Mal allein ins Auto: LW-Redakteuri­n Franziska Jäger.

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