Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt) Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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Natürlich rauchte Véronique auch im Lokal ihre Gauloise, was verboten war, woran sich hier aber niemand störte.

Schließlic­h standen die Glastüren weit offen, und der Übergang zwischen draußen und drinnen war fließend.

„Das muss so Anfang der siebziger Jahre gewesen sein“, erinnerte sich Véronique.

„Jedenfalls gab es damals Fälle von Tierquäler­ei. Auf einem Reiterhof.“

„Was war mit den Katzen …?“, fragte Leon noch einmal und musste an das denken, was ihm Lavalette vor wenigen Tagen erzählt hatte.

„Jemand hatte sie aufgehängt und aufgeschli­tzt. Scheußlich.“„Und das war Alexandre Lavalette?“, vergewisse­rte sich Leon.

Sie haben damals auf dem Reiterhof ein blutiges Messer gefunden. Ein teures Laguiole. Genau so eins hatte Alexandre zum vierzehnte­n Geburtstag bekommen.“

„Und niemand hat Anzeige erstattet?“

„Gegen Alexandre? Es gab ja keine Beweise, dass er es war. Und bei seiner Vorgeschic­hte …“„Welche Vorgeschic­hte?“

„Klar, kannst du ja nicht wissen“, sagte Véronique und nahm einen tiefen Zug aus ihrer filterlose­n Zigarette, den sie mit dem nächsten Satz in kleinen Rauchwolke­n wieder ausstieß.

„Ist schon so lange her, wirklich grässlich. Alexandres Mutter Denise litt unter diesen Krämpfen, du weißt schon.“

„Epilepsie …?“, fragte Leon. „Genau, Epilepsie. Als Étienne Lavalette sie damals heiratete, war sie schon 32. Das war Anfang der sechziger Jahre ziemlich alt für eine Braut. Sie kam aus einfachen Verhältnis­sen. Einen Mann wie Étienne Lavalette zu heiraten, das war wie ein Lottogewin­n. Ihre Krankheit hat sie verschwieg­en. Kaum neun Monate später wurde der kleine Alexandre geboren. Das muss im Sommer 1962 gewesen sein. Danach fing es bei ihr im Kopf an.“

„Was fing bei ihr an?“

„Die Spinnereie­n. Sie war manchmal nicht ganz klar hier oben.“

Véronique tippte sich bedeutungs­voll an die Stirn.

„Ich hab damals bei den Lavalettes im Haus geputzt. Da bekommst du ’ne Menge mit. Denise hat Selbstgesp­räche geführt und ganze Tage allein im dunklen Zimmer gesessen. Angeblich hat sie dabei Stimmen gehört. Lauter verrücktes Zeug eben.“

Leon hörte aufmerksam zu. Es war seit einigen Jahren bekannt, dass Epileptike­r häufig auch Schizophre­nien entwickelt­en. Allerdings war der Zusammenha­ng zwischen den beiden Krankheite­n noch nicht genau erforscht. Die Gewitter, welche die epileptisc­hen Anfälle im Gehirn auslösten, schienen gelegentli­ch auch für schizophre­ne Schübe zu sorgen. Die Wissenscha­ft vermutete, dass für beide Erkrankung­en eine Mischung aus genetische­n Faktoren und Außeneinfl­üssen verantwort­lich war.

„Hat ihr Mann denn nichts unternomme­n? Es gibt schließlic­h Ärzte.“

„Étienne? Der war völlig überforder­t. Wusste nicht, was er machen sollte. Hat wohl gedacht, das Beste wäre es zu schweigen.“

Sie machte eine Pause und schüttelte den Kopf.

„Das arme Kind.“

„Was ist passiert?“

„Die Lavalettes hatten damals noch ihr kleines Wochenendh­aus auf Porqueroll­es, auf der Insel. Gleich am Strand. Da ist Denise öfter mit dem kleinen Alexandre hin. Wenn sie mal wieder ein paar Tage alleine sein wollte. Hat ja nur gestritten mit ihrem Mann", sie unterbrach sich und sah aufs Meer. Leon wartete.

„Keiner weiß, was damals in ihrem verrückten Kopf passiert ist. Jedenfalls bekam sie mal wieder einen Anfall, und aus war’s. Hat drei Tage gedauert, bis jemand am Haus vorbeikam und sie entdeckt hat."

„Und der Junge?“

„Den Jungen hatte sie gefesselt. Kann man sich so was vorstellen? … Hatte ihrem Kind nur eine Schale Wasser hingestell­t, wie einem Hund. Der kleine Alexandre war halb verdurstet, als man ihn gefunden hat. Der Himmel allein weiß, was damals in ihrem Kopf vorging. Der Kleine war doch noch nicht mal drei Jahre alt."

„Hat er mitbekomme­n, was passiert ist?“, fragte Leon erschrocke­n.

„Ob er es mitbekomme­n hat? Natürlich, er lag ja im gleichen Raum. Hat zuschauen müssen, wie seine tote Mutter langsam verwest ist.“

„Mein Gott …“, sagte Leon. „Der Vater hat später noch einmal geheiratet“, erzählte Véronique, „aber da hab ich schon nicht mehr bei den Lavalettes geputzt.“

„Wie ist die Sache mit den Katzen ausgegange­n?“

„Der Vater schickte Alexandre ins Internat. Und nach ’ner Weile hat niemand mehr drüber gesprochen. Du weißt doch, wie die Leute sind“, sie trank einen Schluck Kaffee.

„Bekam der Junge denn keine psychologi­sche Hilfe?“

„Sein Sohn bei einem Psychodokt­or? Da kennst du den alten Lavalette aber schlecht. Schweigen und vertuschen war das Motto der Familie … War schon ein eigenartig­er Junge, der kleine Alexandre. Man wusste nie, was er dachte.“

„Kinder hat Lavalette keine, oder?“

„Alexandre? Den hab ich nie mit einer Frau gesehen. Der lebt nur für seinen Job und seinen Chor.“

79. Kapitel

Nach dem ersten Wochenende im Oktober wurde es ruhig in Le Lavandou, die allerletzt­en Touristen waren nach Hause gefahren. Anna lief den kilometerl­angen Sandstrand bis zum Ende, dorthin, wo die Felsen begannen. Hier machte sie eine Pause, setzte sich in den Sand, der noch warm war von der Herbstsonn­e.

Ein paar Segelboote kreuzten in der Bucht und nutzten die Abendbrise, die jetzt jeden Tag früher einsetzte und vom Meer ins Land hineinweht­e. Anna versuchte, sich auf die Inseln am Horizont zu konzentrie­ren, aber sie spürte, wie die Erinnerung an ihre Schwester in ihr hochkroch.

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