Der diktatorische „Maestro“war gestern
Die Frage, was der Chefdirigent eines Philharmonischen Orchesters alles können muss, stellt sich in Luxemburg, wo Gustavo Gimeno das OPL Ende 2025 verlassen wird
Christian Merlin ist ein lebendiges Lexikon der Geschichte der Orchester der philharmonischen Musik. Als Journalist und Radioproduzent bei „France Musique“und „Le Figaro“hat der Franzose, der perfekt Deutsch spricht, viele Dirigenten und Orchestermusiker getroffen. Ende Januar war er auf Einladung der Philharmonie zu einem Workshop nach Luxemburg gekommen. Sein Thema: „Wozu braucht ein Orchester einen Chefdirigenten?“Bei dieser Gelegenheit haben wir Christian Merlin diese Frage auch gestellt, wollten aber noch einiges mehr von ihm erfahren.
Christian Merlin, Sie haben Germanistik studiert und sich zugleich als Autodidakt eine musikwissenschaftliche Kultur angeeignet. Was hat Sie zur Musik getrieben?
Ich wuchs in einer musikliebenden Familie auf. Zu Hause hörten meine Eltern immer Musik, mein Großvater mütterlicherseits ging ständig in die Oper. Er war Bereitschaftsarzt an der Oper von Nizza und ich habe ihn begleitet. In meinem Germanistik-Studium versuchte ich, Musik und Sprache zusammenzuführen. Ich sehe mich aber nicht als Musikwissenschaftler. Ich habe so viel wie möglich nachgeholt, indem ich alles das gelesen habe, was mir in die Hände fiel, und auch versucht habe, Kontakte zu Menschen zu knüpfen, die mich weiterbringen konnten. Und von da an wurde die Musik zu einer Leidenschaft.
Ihre Sendung bei France Musique heißt „Aux coeur de l’orchestre“– genauso wie ihr Buch, das Sie 2012 geschrieben haben. Wo schlägt denn das Herz eines Orchesters? Schlägt es beim Dirigenten?
Nein, ich denke nicht. Ein Orchester ist ein lebender Organismus, in dem jede Zelle eine Funktion hat und auch gleichermaßen wichtig ist. Die allerletzte der zweiten
Violinen ist genauso wichtig wie die erste Oboe oder die Solotrompete oder der Dirigent. Als Simon Rattle, Chef der Berliner Philharmoniker war, betonte er, sein Orchester habe 128 Musiker und er sei der 129. Er stellte sich nicht über seine Musiker. Auf Ihre Frage noch dies: Das Herz des Orchesters spürt man körperlich am besten, wenn man in seiner Mitte ist.
Haben Sie diese Erfahrung schon mal gemacht?
Ja, mehrmals bei Proben, sei es nun bei Konzerten oder im Orchestergraben in der Oper. Wenn man inmitten der Blechbläser oder neben den Pauken oder unter den Streichern sitzt, dann hat man dort ein unbeschreibliches Körpergefühl. Man wird von der Musik überwältigt. Das ist berauschend und manchmal auch verunsichernd, weil man dort ganz anders hört als im Zuschauerraum.
Sie haben noch weitere Bücher geschrieben, u.a. „Les grands chefs du XXe siècle“erschienen im Jahr 2013. Frage: Haben Sie in diesem Werk auch eine Frau am Dirigentenpult porträtiert?
Nein, eine Chefdirigentin gab es damals nicht, und selbst unter den Musikern waren in dieser Zeit nur wenige Frauen. An das Orchester der Pariser Oper kam die erste Frau im Jahr 1974, bei den Wiener Philharmonikern wurde erst 1997 eine Musikerin zugelassen. Ich denke, das hängt zusammen mit der Vorstellung, ein Dirigent verkörpere die Macht. Der Philosoph Elias Canetti sagte, der Dirigent sei die Verkörperung von Autorität und Stärke. Wir haben lange in einer Zeit gelebt, in der Führung nur männlich sein konnte.
Die Pionierinnen unter den Dirigentinnen hatten es zudem sehr schwer, sich durchzusetzen. Man spürt jetzt aber, dass etwas passiert. Das WDR-Sinfonieorchester in
Deutschland hat gerade die Französin Marie Jacquot ernannt, und das ist eine sehr gute Nachricht.
Gibt es einen Chefdirigenten, den Sie ganz besonders mögen?
Mich hat Carlos Kleiber sehr beeindruckt. Die Musik sprudelte regelrecht aus ihm heraus. Wenn er dirigierte, war es fast so, als würde er das Werk vor dem Zuhörer komponieren, als wäre er selbst der Komponist. Bei ihm war alles natürlich und spontan, und genau das war das Beeindruckende. Und er war nie akademisch.
Sie hielten einen Vortrag in der Philharmonie Luxemburg zum Thema „Wozu ein Dirigent?“Ich stelle Ihnen dieselbe Frage. Wozu braucht ein Orchester einen Dirigenten?
Der Dirigent hat eine Mehrfachfunktion, und das macht seine Position im Orchester interessant. Ursprünglich hatte er nur eine Funktion, nämlich die der Koordination, der Synchronisation beim Zusammenspiel. Das wurde lange Zeit delegiert. In einem Barockensemble konnte das zum Beispiel der Cembalist sein, und im großen Orchester die erste Geige, gespielt vom Konzertmeister. Als die Musik rhythmisch und komplexer wurde, die Orchester größer und die Musiker zahlreicher wurden, brauchte man jemanden, der allen gegenüberstand und koordinierte. Und dann wurde mit der Zeit der Dirigent auch noch zu einem Interpreten der Musik. Oft ist es sehr kompliziert, das Koordinieren und Interpretieren zu vereinen.
Der Dirigent ist auch da, um mit dem Orchester zu proben...
Ja, das wird oft außer Acht gelassen. Es gibt Dirigenten, die sehr viel proben und solche, die das etwas weniger detailliert tun und sich für das Konzert Spielraum zum Improvisieren offen halten. Beim italienischen Dirigenten Claudio Abbado zum Beispiel konnten sich die Musiker bei der Probe durchaus langweilen, um sich dann beim Konzert aber zu öffnen und das Publikum zu überraschen. Mikko Franck, der finnische Dirigent, hat mir einmal gesagt: „Das Konzert langweilt mich. Meine Arbeit ist das Einproben, erst danach ist meine Arbeit getan. Es ist das Orchester, das spielt.“Das hat er sicherlich etwas übertrieben. Das Konzert kann aber Musiker inspirieren. Der Chefdirigent hilft, synchronisiert, koordiniert, interpretiert und inspiriert auch. Das sind seine Aufgaben. Es gibt Orchestermusiker, die mögen ihren Dirigenten deshalb, weil sie unter seiner Führung besser spielen können, als sie es sich vorgestellt hatten. Daniel Harding sagte, dass der Dirigent ein Coach sei – genauso wie beim Sport.
Also ein Künstler und Teamleiter. Ist es schwierig, beides zu vereinen?
Nicht alle sind dafür begabt. Es gibt Dirigenten, die musikalisch wirklich hervorragend sein können, denen aber der sozia
Ein Orchester braucht einen Dirigenten, der gleichzeitig musikalisches Talent und Ausstrahlung hat und eine gute menschliche und psychologische Beziehung zu den Musikern aufbauen kann.
le und menschliche Sinn fehlt. Die Psychologie ist vielleicht manchmal wichtiger als die Technik des Taktstocks oder die musikalische Vision. Ich würde zudem behaupten, dass es heute noch komplizierter ist als vor 50 Jahren, weil man damals noch den „Maestro“verehrte. Er hatte die Wahrheit, und die Musiker hatten sich zu fügen. Es gab damals ein Verhältnis zur Macht, das sehr stark war, fast schon despotisch, was heute nicht mehr möglich ist. Es reicht nicht, etwas durchzusetzen, heute muss der Dirigent auch überzeugen.
Sie sind Journalist von „France Musique“und auch der Zeitung „Le Figaro“. Ist es schwierig, mit Dirigenten zu sprechen, sich ihnen zu nähern?
Heute ist das nicht mehr wie früher. Chefdirigenten sind zugänglich und auch verfügbar. Und das müssen sie auch sein. Ich hatte nie Schwierigkeiten, Interviews zu bekommen. Ich glaube sogar, dass sie gerne über ihre Arbeit sprechen. Der Italiener Arturo Toscanini war ein Despot, aber es gab auch den Deutschen Bruno Walter, der sehr charmant war. Es gibt und gab immer unterschiedliche Temperamente. Heute besteht vielleicht die Gefahr, dass Dirigenten zu kumpelhaft sind. Das darf auch nicht sein. Einer seiner wichtigsten Aufgaben besteht nämlich darin, Nein zu sagen. Er korrigiert, indem er verneint, aber er muss daraus etwas Positives schaffen. Der Dirigent darf aber auch nicht alles kontrollieren. Das ist eine seiner schwierigsten Aufgaben, die er lernen muss: Wann er dirigieren, und wann er nicht dirigieren soll. Er muss zeigen, dass er dem Orchester vertrauen kann.
Verfolgen Sie das Luxembourg Philharmonic?
Ja und ich habe den Eindruck, dass das Orchester viele Fortschritte macht. Wenn man ein internationales Konzerthaus wie die Philharmonie de Luxembourg hat, die permanent renommierte Orchester programmiert und zugleich auch noch ein festes Orchester beherbergt, dann fühlt sich das Hausorchester manchmal ein wenig geopfert. Es ist nämlich prestigeträchtiger, die Klangkörper aus Berlin, London oder Chicago ins Programm zu holen. Hier aber habe ich den Eindruck, dass man gerade auch deswegen Fortschritte macht. Mein Gefühl ist auch, dass sich hier die Programmierung auf das Luxembourg Philharmonic abstimmt. Das Orchester ist die Basis, und da herum werden die anderen Konzerte platziert. Das Orchester hat ein gutes Niveau, und die Alben, die es produziert, sind hervorragend.
Gustavo Gimeno, der derzeitige Chefdirigent des Orchesters, wird 2025 ausscheiden. Wie wird nun die Suche nach einem neuen Dirigenten organisiert?
Es gibt keine festen Regeln dafür, das hängt sehr stark von Ort zu Ort ab. Die wichtigste Frage ist jedoch, inwieweit das Orchester in die Auswahl eingebunden wird. Ich finde es sehr wichtig, dass es konsultiert wird. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das zu tun. In einigen Orchestern werden Fragebögen ausgefüllt, Umfragen durchgeführt, und einige tun dies sogar nach jedem Konzert mit einem der Kandidaten. Da der nächste Musikdirektor mit den Musikern zusammenarbeiten muss, sollten sie unbedingt in die Wahl einbezogen werden, aber sie sollen nicht die Wahl alleine treffen. In den meisten Orchestern wird eine Kommission gebildet, in der der Generaldirektor, Vertreter des Orchesters und qualifizierte Persönlichkeiten von außen sitzen.
Was sind die Kriterien, die bei der Auswahl berücksichtigt werden?
Man braucht einen Dirigenten, der eine gute menschliche und psychologische Beziehung zu den Musikern aufbauen kann und gleichzeitig musikalisches Talent und Ausstrahlung hat, denn man muss das Orchester auch nach außen hin erklingen lassen. Das ist sehr wichtig. Ich denke, dass es nicht reicht, einen Dirigenten zu haben, der sich nur auf seine Programme und Konzerte konzentriert. Es muss jemand sein, der eine Vision davon hat, wie man Musik vermittelt. Wir befinden uns im Zeitalter der Kommunikation, der sozialen Netzwerke, auch der Offenheit. Ein Orchester muss sein Publikum permanent erneuern. Ich denke also, dass es jemand sein muss, der sich in das Leben des Saals einbringt, der weiß, wie man auf das junge Publikum zugeht.
: Es gibt Dirigenten, die musikalisch wirklich hervorragend sein können, denen aber der soziale und menschliche Sinn fehlt.