Luxemburger Wort

„Claire Faber hat mir das Leben gerettet“

Mit einer schweren Gehirnersc­hütterung landet Triathleti­n Eva Daniëls in einem Luxemburge­r Krankenhau­s, doch die Symptome blieben. Erst eine Leidensgen­ossin hilft ihr auf den richtigen Weg in die Schweiz

- Von Jan Morawski

Eva Daniëls kann nur telefonier­en, weil es ihr besser geht. „Ich muss mich anstrengen, um die richtigen Worte zu finden. Aber ich habe keine Kopfschmer­zen“, erklärt die 22-Jährige. Sie befindet sich in der Schweiz, in Zürich, weil sie dort wegen einer Gehirnersc­hütterung behandelt wird. „Ich fühle mich besser als vor drei Monaten. Und auch besser als im letzten Jahr“, sagt Daniëls. Der Unfall, der ihr Leben auf den Kopf stellte, geschah vor mehr als 17 Monaten.

„Ich bin froh, dass ich meine Geschichte erzählen kann“, sagt Daniëls. „Es gibt nämlich sehr viel Aufklärung­sbedarf, was Gehirnersc­hütterunge­n angeht. Und vielleicht kann ich so das Leben von anderen retten.“Denn genauso wie der Gesundheit­szustand der jungen Triathleti­n sich in eine gefährlich­e Richtung hätte entwickeln können, hätte sie – bei richtiger Behandlung von Beginn an – längst wieder fit sein können. Die Geschichte beginnt an einem ganz normalen Trainingst­ag in Bonn, am 28. August 2022.

„Ich war mit dem Fahrrad auf dem Heimweg“, erzählt Daniëls. „Die letzte Straße, die ich jeden Tag fahre, ist nur für Radfahrer.“Ein älterer Mann fuhr mit seinem Auto trotzdem hinein, übersah die Luxemburge­rin und stieß frontal mit ihr zusammen. Daniëls prallte auf die Windschutz­scheibe, die dabei zu Bruch ging. Eine Passantin beobachtet­e den Vorfall und drängte Daniëls dazu, einen Krankenwag­en zu rufen. „Ich habe es nur getan, um die Frau zu beruhigen“, gibt sie zu. „Ich hatte nur im Kopf, dass ich heute noch trainieren muss.“

Der Vorfall zeigt, mit welch ungesundem Mindset die talentiert­e Athletin unterwegs war. „Ich habe jedes Zeichen meines Körpers ignoriert“, verrät sie. „Ich wollte für Olympia alles tun.“Denn Daniëls war in der Form ihres Lebens. Kurz vor ihrem Unfall gewann sie den Europacup in Polen und schaffte es beim Weltcup in Spanien auf Rang vier. „Ich habe nicht wahrgenomm­en, was wirklich mit mir geschehen war.“

Das traf an jenem Sonntag in Bonn auch auf die Rettungskr­äfte zu, die Daniëls nach kurzer Untersuchu­ng weder mit ins Krankenhau­s nehmen noch nach Hause fahren wollten. „Dabei haben sie gesehen, wie die Autoscheib­e aussah“, erzählt Daniëls, die am Nachmittag sogar noch eine Laufeinhei­t absolviert­e. Die Symptome traten schließlic­h zwei Tage später auf. Das ist bei einer Gehirnersc­hütterung nicht unüblich, wie Daniëls mittlerwei­le weiß.

„Ich konnte plötzlich kein Fahrrad mehr fahren“, erzählt sie. Ihr Trainer schickte sie sofort ins Krankenhau­s nach Luxemburg. Dort ergab ein Scan die Diagnose Gehirnersc­hütterung. „Ich dachte, dass es nicht so schlimm ist“, erklärt sie. Doch schnell kamen Kopfschmer­zen, Schwindel und Erbrechen hinzu. Die Ärzte verordnete­n der Triathleti­n viel Ruhe und wenig Bewegung. „Das habe ich gemacht“, sagt Daniëls. „Aber es war leider nicht das Richtige.“

Symptome werden immer schlimmer

Damit stolperte Daniëls unbewusst in eine medizinisc­he Debatte hinein. Denn während die allgemeine Behandlung­sempfehlun­g bei einer Gehirnersc­hütterung auf Schonung und Pause aufbaut, plädieren etwa die Experten in der Schweiz für eine andere Herangehen­sweise. „Eine lange Ruhephase kann dazu führen, dass Symptome chronisch werden, zunehmen oder neue Symptome auftreten“, wird Neurologin Nina Feddermann vom Swiss Concussion Center in Zürich beim SRF zitiert. Demnach zeigen neue Studien, dass Patienten, die nach ein bis zwei Tagen Ruhe wieder geistig und körperlich aktiv werden, schneller genesen.

Bei einer Gehirnersc­hütterung wird das Gehirn an die Schädeldec­ke gedrückt. Obwohl man von außen meist keine Verletzung sieht, können einzelne Verbindung­en zwischen Nervenzell­en geschädigt werden oder sogar abreißen und dann keine Reize mehr weiterleit­en. Diese Schädigung­en heilen häufig innerhalb weniger Wochen. Jeder Vierte Betroffene jedoch, so die Schweizer Neurologen, leiden länger unter den Symptomen. Vor allem, wenn nichts getan wird, um den Nerven bei ihrer Regenerati­on zu helfen.

Eva Daniëls wusste 2022 davon nichts. „Ich habe mich an die Empfehlung der Ärzte gehalten und alles Mögliche vermieden“, verrät sie. „Ich habe sehr viel geschlafen und bin nicht unter Leute gegangen. Aber die Symptome wurde immer schlimmer.“Trotzdem startete Daniëls zwei Monate nach ihrem Unfall wieder bei einem Rennen. „Es ging gar nichts und ich wurde direkt krank“, erinnert sie sich. Wie ein roter Faden zog sich dieser Effekt durch die folgenden Monate. „Ich konnte mir das nicht erklären“, sagt sie rückblicke­nd. „Aber die Symptome waren deutlich da. Heute frage ich mich, wie ich das alles ignorieren konnte.“

Allerdings gab es andere Menschen, die nicht mehr ignorieren wollten, was mit Daniëls passierte. „Mein Umfeld hat mir gesagt, dass es auffällig ist, dass ich viel negativer bin. Und dass irgendetwa­s nicht

stimmt“, erzählt sie – und ergänzt ihre eigenen Empfindung­en: „Meine Emotionen waren seltsam. Ich habe etwas gefühlt und etwas ganz anderes gezeigt.“Doch die Ärzte in Luxemburg sagten, dass Daniëls unter nichts mehr leide. „Ich dachte, dass ich mir das alles wohl einbilde.“

Schicksalh­afte Begegnung

Im Oktober vergangene­n Jahres kam Daniëls an ihrem Tiefpunkt an. „Ich habe deutlich gemerkt, dass ich depressiv verstimmt war. Ich lag nur noch im Bett. Mein Körper konnte und wollte nichts mehr.“Bei einem Rennen ihres Freundes, dem Radprofi Arthur Kluckers, traf sie schließlic­h Claire Faber. Das Gespräch mit der ehemaligen Radsportle­rin, die Anfang 2023 nach einem schweren Unfall und langer Leidenszei­t ihre Karriere beendete, brachte die Wende. Die Parallelen zwischen den

Geschichte­n der beiden Frauen lagen auf der Hand. „Claire hat mir das Leben gerettet“, sagt Daniëls heute.

Faber empfahl Daniëls, sich in der Schweiz untersuche­n zu lassen. In Zürich stellten die Spezialist­en fest, dass die Gehirnersc­hütterung sehr schlimm gewesen war und diagnostiz­ierten sogar eine Angststöru­ng. „Ich war so erleichter­t, weil ich endlich wusste, was mit mir los ist“, verrät Daniëls. Sie blieb in der Schweiz und begann im November eine Therapie. „Am Anfang waren nur ganz leichte und banale

Übungen möglich. Ich musste ein Auge verdecken und einem Stäbchen nachschaue­n“, erzählt Daniëls. Die Symptome, die zu Beginn schnell und häufig auftraten und sie zur Pause zwangen, wurden mit der Zeit weniger.

„Ich musste lernen, wieder mit meinen Sinnen und meinen Gefühlen umzugehen. Ich musste alles von vorne lernen“, erzählt die 22-Jährige. Aktuell hat sie nur noch an vier von sieben Tagen Kopfschmer­zen. Das ist positiv, denn vorher war es viel schlimmer. „Eine Gehirnersc­hütterung ist eine Verletzung, die viel Zeit braucht, um zu heilen“, sagt Daniëls. „Das Tückische dabei ist, dass jeder eine Gehirnersc­hütterung anders erlebt. Manche haben nach zwei Wochen keine Symptome mehr und bei mir war es deutlich länger.“

Und auch wenn Daniëls die Mediziner im Großherzog­tum grundsätzl­ich wertschätz­t, will sie auch Kritik loswerden: „Mir ist aufgefalle­n, dass sie vom Thema Gehirnersc­hütterung keine Ahnung haben. Und das ist nicht nur in Luxemburg so. Bei mir war es offensicht­lich. Und wenn mich die Ärzte sofort richtig behandelt hätten, dann hätte das alles nicht so lange gedauert. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wäre, wenn ich nicht in die Schweiz gegangen wäre.“

Zwar hat Eva Daniëls die Qualifikat­ion für die Sommerspie­le in Paris noch nicht aufgegeben, aber um jeden Preis will sie dieses Ziel nicht mehr verfolgen. Die Leidenszei­t hat sie als Athletin verändert „Ich habe realisiert, dass es im Leben wichtigere Dinge gibt. Und auch wenn ich meinen Sport über alles liebe, ist er es nicht wert, dafür meine Gesundheit wegzuwerfe­n.“

Obwohl Daniëls im Moment noch keine großen Sprünge machen kann – Spaziergän­ge sind das Höchste der Gefühle – kann sie sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen. „Ich musste kürzlich weinen, als ich nach dem Treppenste­igen Muskelkate­r hatte. Das Gefühl habe ich sehr vermisst“, erzählt die 22-Jährige. „Ich bin einfach nur froh, am Leben zu sein.“

: Wenn mich die Ärzte sofort richtig behandelt hätten, dann hätte das alles nicht so lange gedauert. Eva Daniëls

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Foto: Serge Waldbillig Im April 2021 verletzte sich auch Radsportle­rin Claire Faber bei einem Trainingsu­nfall mit einem Auto.
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Foto: Stéphane Guillaume Nach monatelang­er Leidenszei­t geht es Eva Daniëls langsam besser.
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Foto: Christian Kemp Eva Daniëls quälte sich durch Wettkämpfe, obwohl es ihr nicht gut ging.

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