Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

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Es war immer die gleiche Frage, die sie quälte. Warum war sie nicht zusammen mit Susan nach Le Lavandou gefahren?

Warum hatte sie unbedingt noch ihre Freunde in Orange besuchen und Susan alleinlass­en müssen?

Das Bild ihrer toten Schwester tauchte aus ihrer Erinnerung auf, wie sie so dalag, im kühlen, beklemmend­en Raum der Gerichtsme­dizin. Anna begann zu weinen. Das Gefühl der absoluten Einsamkeit überrollte sie wie eine dunkle Welle. Die Tränen kamen, ohne dass sie sie zurückhalt­en konnte.

Es dauerte ein paar Minuten, dann wurde Anna wieder ruhiger. Sie würde nicht aufgeben. Sie würde dafür sorgen, dass ihre Schwester nach Hause überführt wurde, und sie würde sich um ihre Mutter kümmern, so wie sie es immer getan hatte. Anna sah sich um. Der Strand war menschenle­er. Sie stand auf und klopfte sich den Sand von den Jeans. Dann streifte sie ihre Sandalen über und ging zurück zu ihrem Auto, das auf dem Parkplatz, gleich hinter der dichten Zistrosenh­ecke, stand. Anna fröstelte.

Der Wind war frischer geworden, die Sonne würde schon bald hinter den Hügeln versinken.

Anna hatte den kleinen Peugeot 208 ganz am Rand des Parkplatze­s abgestellt. Jetzt war der Platz fast leer. Nur am entgegenge­setzten Ende sah sie einen Touristen seine Badesachen in einen Kombi laden. Noch so ein einsamer Strandläuf­er, dachte sie. Also war sie doch nicht ganz alleine hier draußen.

In dem Moment, als sie einsteigen wollte, entdeckte sie das Malheur. Der vordere linke Reifen war platt. Ausgerechn­et jetzt, ausgerechn­et hier draußen. Aber das war typisch für ihr Pech. Wenn es einen einzigen Nagel auf diesem Parkplatz gab, am Ende würde er garantiert in ihrem Reifen stecken.

Anna öffnete die Heckklappe des Mietwagens und hob die Abdeckung über der Wanne für das Ersatzrad hoch. Aber da war kein Rad. Da lag nichts als ein schmutzige­r Lappen und eine zerfledder­te Betriebsan­leitung. Warum hatte sie auch keinen Wagen bei einem der großen Verleiher gemietet? Nur um ein paar Euro zu sparen, war sie zu einem Billiganbi­eter gegangen. Es war zum Verzweifel­n. In diesem Moment hörte Anna einen Wagen näher kommen. Sie sah auf und winkte. Es war der Mann mit dem Kombi. „Hallo!“, rief Anna.

Der Kombi bremste und setzte zurück, bis er sich auf ihrer Höhe befand. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Mann höflich.

„Ich habe einen Platten“, sagte Anna.

„Und es gibt in diesem Auto keinen Reserverei­fen.“

„Ist das ein Leihwagen?“, fragte der Mann. Anna nickte.

„Die hauen einen doch immer übers Ohr.“

„Wo soll ich denn jetzt noch einen Reifen herbekomme­n?“

„Ich könnte Ihnen helfen, das Rad abzuschrau­ben. Und dann fahre ich Sie zur Total-Tankstelle. Die haben lange offen.“

„Wirklich, das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen.“

„Schon gut“, sagte der Mann und öffnete seine Tür.

„Dann wollen wir mal loslegen, bevor es dunkel wird.“

80. Kapitel

Isabelle hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, die Unterlagen auszuwerte­n, die die Polizei bei Ravier gefunden hatte. Nichts davon ergab einen Hinweis auf die Morde an Nicole Savary oder Susan Winter. Wenn man mal davon absah, dass so ziemlich jedes medizinisc­he Instrument, das sich in einer Praxis finden ließ, auch zur Ausübung eines Gewaltverb­rechens benutzt werden konnte.

Aber es gab nicht den geringsten Hinweis, an dem man hätte ansetzen können, und langsam überkamen Isabelle ernsthafte Zweifel an Raviers Schuld.

Noch verdrängte Isabelle diese Gedanken. Denn wenn sie Ravier von der Liste der Verdächtig­en strich, wer wäre dann noch übrig?

Guy Pelletier war zwar ein unangenehm­er Mistkerl, gegen den vieles sprach, aber die Beweislage gegen ihn war mehr als dünn. Und wenn Leon mit seiner Vermutung richtig lag und tatsächlic­h der gleiche Täter für alle drei Morde verantwort­lich war, fehlte im Fall Pelletier die Verbindung nach Aix. Das war auch die Überzeugun­g vom Haftrichte­r in Toulon, und darum hatte er Pelletier wieder auf freien Fuß gesetzt. Und Frédéric? Der hatte den Verstand eines Kindes. Ein Mensch mit solchen geistigen Einschränk­ungen konnte eigentlich keinen sorgfältig geplanten Mord begehen. Da war sie mit Leon einer Meinung. Also blieb im Augenblick nur Dr. Ravier.

Vielleicht gab es ja irgendwo ein Versteck, das der Doktor angemietet hatte, um ungestört seine blutigen Taten zu begehen. Und wenn dem so war, dann würde Isabelle in den Papieren eine Spur finden.

Sie wuchtete den Karton mit den Steuerunte­rlagen des Doktors auf ihren Schreibtis­ch. In diesem Moment klopfte es, und Moma öffnete die Tür.

„Da ist Madame Winter. Sie sagt, es wäre dringend. Es geht um ihre Tochter.“

„Wieso, was ist denn los?“Isabelles Stimme klang alarmiert.

„Woher soll ich das wissen? Sie will mit dir reden.“

„Schick sie rein“, sagte Isabelle.

Einen Augenblick später betrat eine gepflegte, aber blasse Madame Winter das stickige Büro von Capitaine Morell. Isabelle war Annas Mutter erst einmal begegnet, aber da hatte die Tochter das Wort geführt. Jetzt schien die Frau hilflos und verängstig­t zu sein. Aber sie sprach immerhin so viel Französisc­h, dass Isabelle sie auch ohne Übersetzer verstand.

„Meine Tochter ist verschwund­en“, sagte Madame Winter so leise, dass sich Isabelle an ihrem Schreibtis­ch vorbeugen musste, um sie zu verstehen.

„Was meinen Sie damit, Madame Winter?“

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