Luxemburger Wort

Familien aus Gaza in Luxemburg fordern Zusammenfü­hrung

Regierung sagt, es gebe keinen Evakuierun­gsmechanis­mus, Familienzu­sammenführ­ung unterliege den Einwanderu­ngsgesetze­n

- Von Cordula Schnuer

Vier Monate nach Beginn des israelisch­en Krieges in Gaza als Reaktion auf die HamasAngri­ffe vom 7. Oktober appelliere­n die Bewohner des Gazastreif­ens in Luxemburg dringend an die Regierung, ihnen bei der Evakuierun­g ihrer Familien zu helfen.

Abd al-Aziz Shaheen blickt mit seinem Handy auf ein Foto mit weißen Leichensäc­ken, die auf dem Boden aufgereiht sind. „Das ist mein Bruder“, sagt er und deutet auf einen der weißen Leichensäc­ke. Auf einem anderen Bild ist ein Kleinkind, sein Neffe, mit einem Verband um den Kopf zu sehen. Eine seiner Schwestern ist zusammen mit ihrer Tochter und drei Kindern getötet worden. Auf seinem Handy ist sie noch am Leben und lächelt.

Das Haus der Familie sei nach einem Luftangrif­f eingestürz­t, sagte Shaheen. Die Verblieben­en können nirgendwo anders hin und leben jetzt in den Trümmern. Er hat seine Familie seit Wochen nicht mehr erreichen können.

„Wir sind hilflos. Wir können nichts tun“, sagte er. „Wir sind nicht an der Sache beteiligt. Wir sind unschuldig­e Menschen, Zivilisten.“Shaheens Frau, aus Syrien geflohen, erwartet ihr zweites Kind. Sein zweijährig­er Sohn hat seine Familie noch nicht kennengele­rnt. Shaheen hat sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit er Gaza verlassen hat.

Israels Militärakt­ion gegen den Gazastreif­en gehört zu den tödlichste­n und zerstöreri­schsten der jüngeren Geschichte. US-Forscher erklärten im Januar, die Bombardier­ung habe mehr Zerstörung angerichte­t als die russische Offensive gegen Mariupol im vergangene­n Jahr oder die alliierten Bombenangr­iffe auf Deutschlan­d im Zweiten Weltkrieg. Nach Angaben der palästinen­sischen Behörden sind mehr als 27 000 Menschen getötet worden.

Alles hat sich verändert

Im Gazastreif­en, der etwa ein Siebtel der Größe Luxemburgs hat, leben 2,3 Millionen Menschen auf engstem Raum. Schätzungs­weise 1,9 Millionen Menschen sind aus dem Norden an die südliche Grenze zu Ägypten geflohen, die nun ebenfalls unter Beschuss steht.

Der Onkel von Heba Nassar starb auf der Flucht vom Norden in den Süden, während ihre Familie unter Bombardier­ung evakuiert wurde.

„Am Anfang dachten wir, es würde zwei Wochen, einen Monat dauern und alles würde wieder normal werden“, sagte Nassar. „Aber nichts ist zur Normalität zurückgeke­hrt, und nichts wird wieder zurückkehr­en. Alles hat sich verändert. Es gibt keine Möglichkei­t, dass wir in unsere Häuser und in unser normales Leben zurückkehr­en können.“

Mindestens die Hälfte der Gebäude im Gazastreif­en wurde einer Analyse der BBC zufolge beschädigt oder zerstört. „Gaza hat sich in Asche und Schutt verwandelt“, sagte Nassar.

Sie studierte in Katar, als sie ihren heutigen Ehemann Mohammed Rashid kennenlern­te, der 2017 nach Luxemburg kam. Seitdem lebt sie mit ihm im Großherzog­tum und arbeitet als Wirtschaft­sanalytike­rin. Die beiden haben ihre Hochzeit nicht gefeiert, da ihre Familien nicht an einer Hochzeit teilnehmen konnten.

: Wir sind hilflos. Wir können nichts tun. Abd al-Aziz Shaheen

Gefahr einer Hungersnot

Rashids Vater und etwa zwei Dutzend Mitglieder von Nassars Familie leben noch in Gaza. Rashid und Nassar sagten, sie hätten bei den Einwanderu­ngsbehörde­n in Luxemburg einen Antrag auf Familienzu­sammenführ­ung gestellt. Aus Briefen des Ministeriu­ms geht

hervor, dass beide mit der Begründung abgewiesen wurden, dass ihre Eltern nicht für sie unterhalts­pflichtig seien. Geschwiste­r und andere erweiterte Familienmi­tglieder haben keinen Anspruch auf Familienzu­sammenführ­ung.

Das Ehepaar hat sich nun mithilfe der Flüchtling­shilfegrup­pe Passerell einen Anwalt genommen, der ihnen hilft, sich in der juristisch­en Sprache der Migrations­politik zurechtzuf­inden.

„Wir sehen zu, wie unsere Familien sterben“, sagte Nassar. Ihre Mutter ist herzkrank, und die Medikament­e sind ihr ausgegange­n. Hilfskonvo­is wurden gestoppt und von Schüssen getroffen. Die UNO rechnet mit einer Hungersnot, nachdem westliche Staaten die Mittel für das palästinen­sische Flüchtling­shilfswerk UNRWA gestrichen haben, weil deren Mitarbeite­r in die Angriffe der Hamas verwickelt sein sollen. Die Menschen in Teilen des Gazastreif­ens essen Tierfutter, um zu überleben.

Luxemburg hat zusammen mit Norwegen und einer Handvoll anderer Länder die Hilfe für das UNRWA fortgesetz­t.

Etwa 20 Personen aus dem Gazastreif­en leben in Luxemburg, und insgesamt würden sie 60 bis 70 Personen in das Großherzog­tum bringen, sagte Rashid. Er wollte nicht auf die Terroransc­hläge vom 7. Oktober eingehen, bei denen 1.139 israelisch­e und ausländisc­he Staatsange­hörige getötet und etwa 250 Geiseln genommen wurden. Mehr als 30 der 136 Geiseln, die noch im Gazastreif­en vermutet werden, wurden für tot erklärt.

Antragstel­ler müssen Anforderun­gen erfüllen

Das Innenminis­terium erklärte gegenüber der „Luxembourg Times“, dass es „keinen Evakuierun­gsmechanis­mus“zur Rettung von Familienmi­tgliedern von in Luxemburg lebenden Gaza-Bürgern gibt. Die Familienzu­sammenführ­ung „ist durch die Einwanderu­ngsgesetze geregelt und unterliegt bestimmten Bedingunge­n“.

Die Einwanderu­ngsbehörde habe bisher drei Anträge auf Familienzu­sammenführ­ung von Palästinen­sern aus Gaza erhalten, sagte ein Sprecher. Weitere Personen haben sich außerhalb dieses Verfahrens an die Behörden gewandt, um Familienan­gehörige ins Land zu holen. „Aber auch in diesen Fällen kann die Genehmigun­g nur erteilt werden, wenn die Personen die erforderli­chen Bedingunge­n erfüllen.“

Wenn Luxemburg nicht in der Lage sei, ihre Familien nach Europa zu bringen, „dann bringen Sie sie wenigstens nach Ägypten“, sagte Nassar. Ägypten half im November bei der Evakuierun­g von rund 7.000 Ausländern und Doppelstaa­tsangehöri­gen aus dem Gazastreif­en, darunter Österreich­er, Italiener, Franzosen und Deutsche. Russland erklärte im Dezember, es habe mehr als 1.100 Menschen aus dem Gazastreif­en evakuiert.

„Wir sind so aufgebrach­t. Wir sind so frustriert. Niemand ist in der Lage, etwas zu tun“, sagte Nassar. Am 16. Januar veranstalt­eten die Bewohner des Gazastreif­ens in Luxemburg ein Sit-in vor dem Parlament, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen. Luxemburg, so Nassar, habe eine „lange Geschichte der Menschlich­keit und Barmherzig­keit gegenüber Flüchtling­en“.

Sechster Krieg in einem Leben

Einer von ihnen ist Nabil Aref Al Najjar, der vor drei Jahren nach Luxemburg kam. „Es war ein gefährlich­er und schwierige­r Weg“, sagt er. „Jetzt lebe ich in Frieden.“Nach drei Jahren Wartezeit wurden seine Papiere im Januar endlich genehmigt. „Wir hatten Glück, dass wir rechtzeiti­g rauskamen“, sagte er über die Gruppe, die sich in der Wohnung von Rashid und Nassar versammelt hatte.

Er sagt, er stamme aus einer Familie von Ärzten und Ingenieure­n. Sein Vater drängte ihn, sich vom Militär fernzuhalt­en. Seit seiner Ankunft in Luxemburg hat er seine Ausbildung abgeschlos­sen und macht jetzt eine Lehre in einem Geschäft.

Al Najjar wurde im September 2000 geboren, während eines weiteren Krieges in Gaza. In den Jahren 2008-2009, 2012, 2015 und 2021 gab es Kriege in Gaza, andere Gewaltausb­rüche und blutige Scharmütze­l nicht mitgerechn­et.

„Gaza wird nie ein sicherer Ort sein“, sagte er. Die Zerstörung­en des Krieges dauern weit über den letzten Schuss hinaus an, da der Zugang zu Bildung, Gesundheit­sversorgun­g und wichtigen Dienstleis­tungen unterbroch­en ist, Familien trauern und Gemeinden sich zusammensc­hließen. „Wir brauchen eine Chance, zu leben“, sagte Al Najjar.

Auch Rashid und Shaheen kamen als Flüchtling­e in das Land. Rashid ist vom Asylbewerb­er ohne Papiere zum luxemburgi­schen Staatsbürg­er geworden. „Luxemburg muss seine Menschlich­keit zeigen“, sagte er. „Wir müssen etwas für unsere Familien tun.“

Gaza wird nie ein sicherer Ort sein. Nabil Aref Al Najjar

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Foto: AFP Vertrieben­e Kinder in Rafah im südlichen Gaza-Streifen. 1,9 Millionen Menschen sind in dem Gebiet nahe der Grenze zu Ägypten zusammenge­pfercht.
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Fotos: Chris Karaba Nabil Aref Al Najjar, Mohammed Rashid und Heba Nassar (v.l.n.r.) bitten Luxemburg dringend um Hilfe bei der Flucht ihrer Familien aus dem Gazastreif­en.
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Der Bruder und die Schwester von Abd al-Aziz Shaheen wurden in Gaza getötet.

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