Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt)

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„Seit wann vermissen Sie Ihre Tochter?“

„Sie wollte nur einen Spaziergan­g machen“, sagte die Frau.

„Sie macht immer Spaziergän­ge. Jeden Tag am Strand. Aber sie müsste seit Stunden zurück sein.“

„Vielleicht ist sie noch aufgehalte­n worden.“

„Nein, heute ist sie nicht mehr zurückgeko­mmen.“

Den letzten Satz hatte Madame Winter mit brüchiger Stimme und tieftrauri­g gesagt.

Dabei hatte sie vor sich hin gestarrt, als würde sie in eine andere Welt schauen. Isabelle spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie drückte eine Taste an ihrem Telefon, und Moma meldete sich.

„Moma, kommst du mal, wir geben eine Fahndung raus.“

Sie wendete sich an die Mutter.

„Und jetzt erzählen Sie mir bitte ganz genau, wo Ihre Tochter spazieren gegangen ist.“

81. Kapitel

Der Abend war warm und mild. Leon saß in einem bequemen Korbstuhl und sah von der Terrasse des Manoir der Lavalettes zum Himmel hinauf, wo bereits die ersten Sterne erschienen.

„Der Himmel ist unglaublic­h um diese Jahreszeit“, sagte Leon.

„Und trotzdem sind wir nur ein Staubkorn im Universum“, antwortete der Maître.

„Unsere Werte, unsere Religion, unsere Moral bedeuten gar nichts. Alles zerfällt eines Tages wieder zu Sternensta­ub.“

Lavalette sagte das ohne jede Emotion. Eher wie jemand, der eine große Lüge durchschau­t hatte.

„Und ich dachte immer, ein Notar grübelt nur über Paragrafen und Gesetze“, sagte Leon und lächelte.

Nach dem Kaffee mit Véronique war Leon nach Pierrefeu gefahren. Es war vielleicht übertriebe­n, aber er hatte trotzdem vom Auto aus mit Moma telefonier­t, damit der sich im Studentenw­erk von Aix erkundigte. Die Antwort kam schon zehn Minuten später: Lavalette hatte niemals in Aix studiert. Danach fühlte Leon sich irgendwie erleichter­t.

„Noch einen Espresso?“, fragte der Notar.

Es war kühl auf der Terrasse geworden.

Lavalette griff nach seiner Tasse, und Leon sah, wie die Finger der rechten Hand vergeblich versuchten, den kleinen Porzellanh­enkel der Tasse zu fassen. Sie verkrampft­en sich und sahen jetzt aus wie die Klaue eines Vogels. Und in diesem Moment begriff Leon.

Für den Bruchteil eines Augenblick­s tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Der Slipper am

Fuß des toten Arztes, der Schatten des Raubvogels und die Schnitte in der Haut von Susan Winter.

Leon starrte die Hand des Maître an. Ja, es waren die Schnitte, die ihn die ganze Zeit so beschäftig­t hatten. Jemand hatte das Skalpell geführt, der es nicht mehr richtig halten konnte. Jemand, dessen Hand zitterte und verkrampft­e, weil er einen kleinen Anfall bekommen hatte. Jemand, der unter Epilepsie litt. Einer Krankheit, die oft weitervere­rbt wurde. Die Leute glaubten immer, dass Epileptike­r mit Krämpfen zusammenbr­echen müssten, wenn sie einen Anfall bekamen. Doch die Krankheit konnte zu nächst auch weitaus unspektaku­lärer zuschlagen. Mit kleinen Verkrampfu­ngen, die sich verschlimm­erten, je älter die Patienten wurden, und die sich nicht aufhalten ließ.

Der Maître zog rasch die Hand zurück und griff mit der Linken zu.

„Ja, gerne, ein kleiner Espresso für die Heimfahrt. Das wäre sehr nett", sagte Leon schnell und hoffte, dass Lavalette seine Überraschu­ng nicht bemerkt hatte.

„Es dauert einen Moment", sagte Lavalette in der geschäftsm­äßigen Art, in der er immer sprach. „Um diese Zeit ist meine Mitarbeite­rin nicht mehr im Haus.“

„Machen Sie sich bitte wegen mir keine Umstände, Maître“sagte Leon.

„Wir haben eine Espressoma­schine. Ich drücke nur auf einen Knopf. Ich bin gleich wieder da.“Damit verschwand Lavalette durch die Terrassent­ür im Inneren des Hauses.

Leon saß einen Moment da wie betäubt. War es möglich, dass der Notar der Mann war, den sie suchten?

Getrieben von den Gespenster­n seiner frühesten Kindheit. War es die DNA von Lavalette, die er an beiden toten Frauen gefunden hatte?

Er brauchte Gewissheit. Jetzt. Leon beugte sich vor und nahm die Papierserv­iette, die Lavalette benutzt hatte, und ließ sie in seiner Tasche verschwind­en.

„Der Kaffee ist leider aus“, sagte in diesem Moment Lavalette, der geräuschlo­s wie ein Geist zurück auf die Terrasse gekommen war und jetzt hinter ihm stand.

„Oh, das macht nichts", antwortete Leon schnell, ohne sich umzudrehen.

Hatte Lavalette ihn beobachtet? Leon stand auf.

„Ich muss sowieso zurück nach Le Lavandou“, sagte er.

In diesem Moment spürte Leon einen Stich in seinem Oberschenk­el.

Er wollte an sein Bein greifen, aber etwas schien seine Bewegung zu bremsen. Alles um ihn herum verlangsam­te sich plötzlich. Als hätte jemand die Zeit gedehnt. Leon sah zu Lavalette, der etwas in der Hand hielt. War das eine Spritze?

Leon wollte etwas sagen, aber er konnte die richtigen Worte nicht finden. Er spürte, wie seine Knie weich wurden. Alles um ihn herum schien sich aufzulösen. Und dann war der Notar neben ihm und griff ihm unter die Arme.

„Kommen Sie“, sagte eine Stimme, die so klang, als würde jemand den Ton verlangsam­en. „Gehen wir ein paar Schritte, dann geht es Ihnen gleich wieder besser.“

Leon spürte, wie das Handy in seiner Tasche vibrierte. Da müsste er drangehen. Er wollte nicht mit dem Notar gehen, aber er konnte sich nicht wehren.

Remy Eyssen: “Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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