Die guten Geister der Chamber
Saaldiener sind die Menschen, die hinter den Kulissen dafür sorgen, dass im Parlament alles klappt – und noch vieles mehr. Eine Reportage
Marc Weyrich hat ein besonderes Talent: Wenn die Uhr an manchen Donnerstagen 14:30 schlägt, wird er so gut wie unsichtbar. Von Beruf ist er sowas wie ein guter Geist. So werden sie auch oft genannt – die Saaldiener der Chamber. Marc ist einer von nur acht in Luxemburg. Dabei ist es bereits eine Leistung an sich, an seinem Arbeitsplatz nicht aufzufallen, wenn ihm dabei Kameras und wenigstens 60 Menschen zuschauen. Doch das gehört nun mal zu den wichtigsten Eigenschaften seines Berufs: Zurückhaltung, Verschwiegenheit, unauffällig sein – „das klingt vielleicht etwas altmodisch, aber ganz einfach gesagt: Man muss wissen, wie man sich benimmt“, fasst Marc zusammen.
Sich zu benehmen, das bedeutet auch, der Versuchung, Staatsgeheimnisse aus dem Nähkästchen zu plaudern, nicht nachzugeben. Das gehört zum Job. „Man versucht, vieles von dem auszublenden, was man so in den Gängen hört. Die Neugier rundherum ist groß. So viel hätten wir aber gar nicht zu erzählen“, findet der 32-Jährige, der aus Junglinster stammt und seit 2015 Saaldiener ist.
Nach vier Jahren beim Militär, „da oben“am Herrenberg, wie Marc jedes Mal sagt, und einer Kochlehre in einer Jugendherberge, ist er beim Staatsexamen der Chamber unter 100 Bewerbern als einer von zweien angenommen worden. Danach gefragt, wie es sich anfühlt, nur einer von acht zu sein, die seinen Beruf ausüben, muss Marc kurz grinsen. Für ihn ist es nicht einfach, plötzlich im Rampenlicht zu stehen und Fragen zu beantworten. Das machen sonst die Abgeordneten. „Ich habe nie so richtig darüber nachgedacht“, antwortet er verlegen. Es sei aber eine Ehre, seinen Teil im Parlament für die Demokratie zu leisten. Schon sein Vater hatte eine repräsentative Rolle bekleidet bei der großherzoglichen Polizei.
Wenn Menschen ihn danach fragen, was er denn genau macht, können sie sich zunächst wenig darunter vorstellen. Für sie ist ein Saaldiener der sympathische Kellner, den sie gelegentlich auf Chamber TV sehen, wie er dem Chamberpräsidenten während Plenarsitzungen einen Kaffee serviert. „Man denkt, ich sei als Huissier entweder ein Portier im Frack oder ein Gerichtsvollzieher und kann sich nicht vorstellen, was hinter dem Beruf steckt“, erzählt Marc Weyrich. Das sei aber nicht schlimm. Vor zwölf Jahren hätte er selber nicht gewusst, was ein Saaldiener genau macht.
Von klein bis groß – Marc ist so ziemlich für alles zuständig, was man sich vorstellen kann: die Post der Abgeordneten morgens verteilen, Büromaterial besorgen, Drucker mit Tinte und Papier versorgen, Getränkebestellungen und Saalreservierungen aufnehmen, er begleitet aber auch den Chamberpräsidenten auf bestimmten Reisen, bereitet Kommissionen und Plenarsitzungen vor. Schlicht: Wenn einer der Abgeordneten in der Chamber etwas benötigt, ist Marc zur Stelle.
Warum Saaldiener und Abgeordnete nicht unbedingt Freunde sind
An jenem Tag als das „Luxemburger Wort“Weyrich in der Chamber für einen Tag begleitet, ist er in Eile. Am Vormittag steht die öffentliche Anhörung der Petition 2035 an. Deren Petenten wollen das Aus des Verbrennungsmotors ab 2035 nicht akzeptieren. Davor muss der Plenarsaal auf Trapp gebracht werden. Bedeutet: Wassergläser herrichten, Unterlagen kopieren, Namensschilder aufstellen oder noch die Sitzordnung für die öffentliche Anhörung organisieren. Zudem muss sich Marc mit der Präsidentin der Petitionskommission absprechen, wie sie die Petenten empfangen möchte. „Das macht jeder Präsident anders. Manche übernehmen bei der Begrüßung gerne den Lead, manchmal sind wir dafür zuständig“, erklärt Weyrich.
Ein Abgeordneter, der kurz vor Beginn der Anhörung hastig den Saal betritt, schaut verwirrt durch den Saal. Reflexartig dreht er sich zu Marc und erkundigt sich nach der Sitzordnung. „Letztes Mal saß ich woanders“, vermerkt er. Zu Marcs Aufgaben gehört es dazu, Abgeordneten bei den kleinsten Aufgaben zu unterstützen – auch in solchen Situationen.
Abgeordnete schätzen Marcs Arbeit. Freunde sei man aber nicht unbedingt. „Man kennt sich nicht persönlich, begrüßt sich aber jedes Mal freundlich“, erzählt ein Abgeordneter. Marc sieht das so ähnlich. Unabhängig davon, ob er Abgeordnete persönlich kennt, seit Jahren täglich frequentiert oder diese neu sind – er siezt jeden. „Abgeordnete stehen oft unter Druck. Da kann es passieren, dass man sie in einem schlechten Moment erwischt und sie sich im Ton vergreifen. Deswegen bin ich per Sie mit allen. Im Siezen beschimpft es sich nicht so gut.“
„Vorbereitung ist mehr als 50 Prozent unserer Arbeit“
Als die Petenten kurz vor Beginn der Anhörung in der Chamber ankommen, hält Marc einige Meter Abstand hinter der Kommissionspräsidentin. Er steht gerade, Hände hinter dem Rücken verschränkt, und lächelt freundlich. Heute übernimmt die Präsidentin die Begrüßung. Er folgt der Gruppe die Treppen herauf bis in den Plenarsaal und begibt sich in einen schmalen Raum hinter dem Podium des Chamberpräsidenten. Als die Sitzung beginnt, heißt es für ihn erstmal abwarten. Jederzeit kann etwas passieren: Ein Petent versteht nicht, wie er das Mikrofon zu bedienen hat, die Kopfhörer mit der Simultanübersetzung sind defekt, Unterlagen werden gebraucht. Weyrich muss aufmerksam und reaktiv sein. Wird er gebraucht, muss es schnell gehen.
Im schmalen Raum hinter dem Podium stehen vier Drucker, ein kleiner Kühlschrank mit Getränken und allerlei Krimskrams. Für mehr ist kein Platz. An der Wand hängt ein Zettel mit den Namen der Parteien und der Fraktionschefs. „Liberté-Fraihëet“ist mit dem Bleistift hinzugefügt und wieder gestrichen worden. „Der Zettel ist nicht mehr aktuell, wie man merkt.“Zwar kenne man alle Namen, „nach einer längeren Pause kann es aber sein, dass man den Spickzettel mal braucht“. Zum Glück gibt es hier nur 60 Namen – im Deutschen Bundestag sind es 598.
Während der Anhörung beginnen bereits die Vorbereitungen für die Plenarsitzung am Nachmittag. „Kollegen werden Ihnen sagen: Vorbereitung ist mehr als 50 Prozent unserer Arbeit. Ich würde eher sagen: 70 bis 80 Prozent“, erzählt Marc und holt sich eine Cola aus dem kleinen Kühlschrank. Tagesordnung, Reden und andere Dokumente müssen für alle Abgeordneten ausgedruckt werden. Das darf nicht im letzten Moment gesche
hen.
30 Minuten lang läuft während der Anhörung im Hintergrund der Drucker warm. „Bei einer längeren Sitzung kann es sein, dass wir an einem Tag drei- bis viermal den Drucker neu mit Papier befüllen müssen.“Auch wenn Marc mit seinen Vorbereitungen beschäftigt ist, bekommt er meistens mit, was in der Sitzung gesprochen wird. „Man ist als Saaldiener wohl noch informierter als andere Bürger.“
Was die Uniform des Saaldieners ausmacht
Für Marc geht der Tag an diesem Donnerstag erst richtig am Nachmittag los. Um 14:30 Uhr ist Plenarsitzung. Nach seiner Mittagspause schlüpft er rund eine halbe Stunde vor Beginn in seine Uniform: ein schwarzer Frack mit knielangen Schößen, liebevoll „Pinguin“Frack genannt, darunter eine weiße Weste und ein gleichfarbiges Hemd. Die Fliege knotet er kurz vor Beginn der Sitzung. Zum Dresscode gehört zudem eine Silberkette, an der eine Medaille mit der Innschrift „Huissier de la chambre des députés“hängt.
Nicht alle Medaillen davon sind aus demselben Material: die einen aus Silber, die anderen aus Aluminium. Ursprünglich habe es nur zwei Huissiers in der Chamber gegeben. Die Silberketten seien noch von damals. Seither seien neue aus Aluminium produziert worden, nachdem der Personalschlüssel aufgestockt wurde. Marc bevorzugt die silberne aus einem besonderen Grund: „Beim Gehen wackelt die Silbermedaille weniger hin und her, weil sie schwerer ist als Aluminium“, klärt er auf.
Sobald Marc seinen Frack übergeworfen hat, entfaltet die Uniform eine Art magische Wirkung. Marc schlüpft in seine Rolle als Saaldiener erst richtig hinein. Seine Körperhaltung wirkt plötzlich anders. „Das liegt wohl an der Kleidung. Der Frack zieht die Schultern etwas nach hinten, man geht gerader. Man streckt auch die Brust aus, weil man stolz ist, diesen Job zu machen“, so Marc.
„Niemand schaut wegen mir Chamber TV“
Während die Abgeordneten kurz vor 14:30 in den Saal strömen und für einige Minuten ein lautes Getöse die Überhand im Raum nimmt, steht Marc vor dem Eingang des schmalen Gangs, das sich hinter dem Podium befindet. In seiner Hand ein Zettel mit der Namensliste, auf der er die Namen der anwesenden Abgeordneten ankreuzt. Zwar würden sich die Abgeordneten beim Eingang selber einschreiben, doch würden die Saaldiener einen Doppelcheck durchführen.
Sobald die Türen des Plenarsaals geschlossen sind und die Sitzung begonnen hat, muss Marc seine Reaktivität unter Beweis stellen. Während der Plenarsitzung ist es seine Aufgabe, das zu tun, was spontan von ihm verlangt wird. Sei es, Dokumente für Abgeordnete ausdrucken oder für Sie außerhalb des Plenarsaals in Empfang zu nehmen, Motionen und Resolutionen zu verteilen, Geheimzettel weiterzugeben – oder dem Chamberpräsidenten einen Kaffee bringen. Hektisch darf er dabei nicht sein. „Niemand schaut meinetwegen Chamber TV. Da darf man nicht auffallen mit hektischen Bewegungen.“
Trotzdem sei nicht auszuschließen, dass während einer Plenarsitzung oder einer Feierlichkeit in der Chamber etwas schieflaufe und dabei der Saaldiener in den Mittelpunkt des Missgeschicks gerät – ungewollt, versteht sich. Einmal sei bei Feierlichkeiten in Ettelbrück rund um die 175 Jahre der Luxemburger Verfassung nicht alles nach Protokoll gelaufen. Der Großherzog habe seinen Einsatz verpasst, „als ich dann nach ihm geschaut habe, war er weg. Der Großherzog ist mir damals entlaufen“, erzählt er grinsend.
An dem Tag läuft für Marc alles nach Plan. Hin und wieder wird er von Abgeordneten hergerufen. Gegen Ende dieser Sitzung, die um rund 20 Uhr endet, hat er mehr als sonst zu tun. Ein Präsident und vier Mitglieder des Verwaltungsrates des Centre de l‘égalité de traitement (CET) müssen gewählt werden. Bei jedem Durchgang muss Marc mit der Urne die Stimmzettel der einzelnen Abgeordneten einsammeln, während der Chamberpräsident die Namen laut ausruft. Nach dem zweiten Durchgang kommt er ins Straucheln. Er läuft von rechts nach links und wieder von links nach rechts, während der Präsident das Tempo seiner Namensrufe beschleunigt. Man will die Sitzung so schnell wie möglich beenden.
Als Chamberpräsident Claude Wiseler (CSV) dann doch das Ende der Sitzung einläutet, ist der Tag für Marc immer noch nicht zu Ende. Dokumente werden von den Pulten eingesammelt, Wassergläser weggeräumt, EMails und die Planung der nächsten Tage gecheckt – das macht Marc nach eigenen Angaben nichts aus. Der macht seine Arbeit gern. Der Chamberpräsident, der ebenso länger im Plenarsaal sitzen geblieben ist, lächelt Marc aus der Ferne zu, als dieser fotografiert wird. Heute stand der im Mittelpunkt, dessen Arbeit es eigentlich ist, nicht aufzufallen.
: Man versucht, vieles von dem auszublenden, was man so in den Gängen hört. Marc Weyrich, Saaldiener der Chamber