Luxemburger Wort

Warum das Unrecht nicht gewinnt

Die Ausstellun­g „Die Cellistin von Auschwitz“in der Villa Pauly erzählt Kindern vom Grauen der NS-Zeit, ohne es zu zeigen, und hilft, sie gegen Hass und Intoleranz zu wappnen

- Von Steve Remesch

Eine Ausstellun­g für Kinder über das Leben und Überleben einer damals 17-Jährigen im Konzentrat­ionslager Auschwitz-Birkenwald? Das klingt nach schwerer Kost. Ist es auch. Und vielleicht umso mehr, als die Ausstellun­g mit Blick auf den Nationalso­zialismus an einem der dunkelsten Orte der luxemburgi­schen Geschichte stattfinde­t: in der Villa Pauly, dem Symbol für nationalso­zialistisc­hen Terror und Unterdrück­ung im Großherzog­tum schlechthi­n.

Hier, am hauptstädt­ischen Boulevard de la Pétrusse, hatte die Gestapo, die Geheimpoli­zei der Nationalso­zialisten, nach der Besetzung Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg ihr Hauptquart­ier bezogen. In den Kellergewö­lben folterten die Nazis Menschen auf grausamste Weise.

Damit sich die Geschichte nicht wiederholt

Er betrete dieses Gebäude mit starken Emotionen, sagt der Holocaust-Überlebend­e Claude Marx. Er wurde 1934 als Sohn einer jüdischen Familie im französisc­hen Nancy geboren. Den Zweiten Weltkrieg überlebte er getrennt von seinen Eltern, weil eine Metzgerfam­ilie ihn unter Einsatz ihres Lebens auf dem Dachboden versteckte. Einen großen Teil seines Lebens, das ihn lange nach dem Krieg ins Großherzog­tum führt, verbringt er damit, die Erinnerung wach zu halten. Damit sich Geschichte nicht wiederholt.

Und gerade Kinder und Jugendlich­e seien interessie­rt, egal, was man ihrer Generation nachsagt. „Sie interessie­ren sich für das Menschlich­e, für das, was ihnen nahe ist“, sagt der 89-Jährige. „Und deshalb glaube ich, dass diese Ausstellun­g für sie sehr anschaulic­h sein kann.“Denn im Grunde würden kleine und große Kinder vor allem wissen wollen, wie das, was gerade um sie herum passiert, sich auf ihr Leben und ihre persönlich­e Situation auswirken kann.

Hier setzt die Ausstellun­g an, die sich ganz den Erlebnisse­n der jüdischen KZÜberlebe­nden Anita Lasker-Wallfisch widmet. Als „Cellistin von Auschwitz“ist die heute 98-Jährige in die Geschichte eingegange­n. Sie hatte als Kind Cello spielen gelernt und wurde mit 17 Jahren in das Vernichtun­gslager Auschwitz deportiert, wo sie aufgrund ihrer musikalisc­hen Fähigkeite­n in das „Lagerorche­ster“aufgenomme­n wurde. So war es wohl auch ihre Musik, die ihr Überleben ermöglicht­e.

Eine positive Geschichte erzählen

Die 19 Tafeln der Ausstellun­g vermitteln das Grauen, das sie erlebt hat, ohne es direkt zu zeigen, aber auch ohne es zu verharmlos­en. Das ist wichtig. Die Bilder, die auch aus einem Kinderbuch stammen könnten, schlagen eine Brücke zwischen heute und damals.

„Die Ausstellun­g soll auch eine positive Geschichte erzählen“, betont Marc Schoentgen vom Zentrum für politische Bildung, der die Wanderauss­tellung auf Anregung der deutschen Botschaft nach Luxemburg und in die Villa Pauly gebracht hat. „Das Leben von Anita Lasker-Wallfisch reduziert sich nicht nur auf das, was ab 1933 geschah, und dann endet ihre Lebensgesc­hichte mit dem Tod“, so Schoentgen weiter. „Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist die Geschichte davor. Sie erzählt von ganz normalen Menschen, von ganz normalen Familien.“

Und das Leben von Anita Lasker-Wallfisch ging nach 1945 weiter. Das sei die positive Botschaft, so Schoentgen: „Was eine totalitäre Diktatur versucht hat, ist ihr nicht wirklich gelungen. Das ist eine ganz starke Aussage für heute, dass das Unrecht nicht siegt.“

Normale Menschen werden Täter und Opfer

Die Ausstellun­g zeigt auf erschrecke­nde Weise, dass nicht nur die Opfer ganz normale Menschen waren, sondern auch die Täter. Und sie macht deutlich, wie schnell sich ein demokratis­cher Staat in ein totalitäre­s System verwandeln kann, das Menschen in Vernichtun­gslager schickt. „Was mich beeindruck­t hat, ist im Grunde diese Art der schrittwei­sen Einführung für die

Kinder, eine aktive und sehr konstrukti­ve Pädagogik, die die Eskalation der Gewalt und auch die Eskalation der Angst untermauer­t“, bemerkt Claude Marx.

„Das ist eine große Herausford­erung und Aufgabe“, ergänzt Marc Schoentgen. „Es geht darum, den Blick früh genug zu schärfen, um genau das zu erkennen: Wo ist die Demokratie? Ist sie vielleicht in Gefahr? Wo sind die Grenzen des Sagbaren erreicht? Wo muss man Parallelen ziehen, um das Gestern mit dem Heute zu vergleiche­n, um das Heute besser zu verstehen?“Und das könne man schon früh tun. Denn auch im heutigen Luxemburg würden Kinder Diskrimini­erungserfa­hrungen machen.

Die Ausstellun­g regt zum Mitdenken an, wirft Fragen auf. „Was passierte ab 1933 in einem Land, das eigentlich eine Demokratie war?“, gibt Marc Schoentgen zu bedenken. „Wie ist diese Demokratie und dieser Alltag, den diese Familie gelebt hat, zerbrochen? Was ist passiert durch Menschen, die von einem Schreibtis­ch aus über das Leben von Millionen anderen entschiede­n haben? Wer war daran direkt beteiligt? Und man sieht auf diesen Kinderzeic­hnungen ganz normale Männer, Väter in Uniform, die in Auschwitz-Birkenau die Häftlinge bewachten oder Transporte organisier­ten. Oder als Wächter oder Beamte in einem Gefängnis arbeiteten“.

Verunsiche­rung entgegentr­eten

Diese allgegenwä­rtige Banalität des Bösen, wie sie die Journalist­in Hannah Arendt einst in ihrem Bericht über den Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem beschrieb, zu erkennen, ist wichtig, um heutige Generation­en gegen Hass und Intoleranz zu wappnen.

Dabei gehen die aktuellen Herausford­erungen mit einem großen Erklärungs­bedarf auch für Kinder und Jugendlich­e einher, damit sie sich selbststän­dig orientiere­n können. Denn die Krisen und Konflikte in der Welt, ob in der Ukraine oder im Nahen Osten, führen auch hierzuland­e zu Verunsiche­rung, meint Marc Schoentgen.

„Gerade bei Shoah und Holocaust werden in aktuellen Situatione­n die Grenzen des Sagbaren überschrit­ten“, stellt er fest. „Das gilt auch für die Covid-Krise, wenn Begriffe wie ‚Shoah an Impfverwei­gerern‘ oder ‚Genozid an einer Bevölkerun­g‘ für eigene Zwecke verwendet werden.“Für ihn ist das eine sehr schmerzhaf­te Gleichsetz­ung und eine enorme Verharmlos­ung. Für Menschen wie Claude Marx und andere seien dies „les mots qui blessent, les mots qui tuent“.

: Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist die Geschichte davor. Marc Schoentgen, Zentrum fir politesch Bildung

Wiederkehr­ender Rückgriff auf 1933

Claude Marx erinnert sich in diesem Zusammenha­ng auch daran, wie er als junger Soldat zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit der französisc­hen Armee in Algerien im Einsatz war. „Eine der ersten Lektionen war die Formung des Geistes, die Gehirnwäsc­he“, erinnert er sich. „Als der Krieg ausbrach, wurden wir sofort darauf eingeschwo­ren, das heißt, unsere Unschuld wurde gewisserma­ßen dazu benutzt, uns davon zu überzeugen, dass wir im Recht waren und dass die anderen auf der anderen Seite Mörder waren. Und das war natürlich ein Rückgriff auf die Situation von 1933 in Deutschlan­d, als man den Menschen gesagt hat: ‚Sie wissen, dass es die Juden waren, die uns den Dolch in den

Rücken gestoßen haben. Sie wissen, dass die Juden dafür verantwort­lich sind.‘“

Es war eine sehr prägende Zeit für ihn, denn er gehörte zu denen, die aus dieser Gehirnwäsc­he, aus dieser Formatieru­ng, aus dieser Massenpsyc­hose, die man aufzwingen wollte, ausbrechen wollten. „Man ist Teil eines Ganzen, das gegen einen Feind kämpfen muss“, erklärt Claude Marx. „Und im Grunde wird mir heute bewusst, wie sehr in einigen Demokratie­n, die ich für zerbrechli­ch halte, ähnliche Systeme angewandt werden, und das macht mir große Angst“.

Diese Besorgnis teilt Dr. Heike Peitsch, seit 2023 deutsche Botschafte­rin in Luxemburg. Ein Rechtsruck in der Mitte und eine Verschiebu­ng des politische­n Diskurses nach rechts, wie sie derzeit in Deutschlan­d intensiv diskutiert werden, seien auch in den Nachbarlän­dern zu beobachten. Eigentlich europaweit und darüber hinaus. Aber auch in Luxemburg?

Gefahr auch in Luxemburg?

„Fast alle Gesellscha­ften, fast alle Regierunge­n schauen mit einer gewissen Sorge auf die kommenden Europawahl­en, bei denen die Umfragen ein Erstarken nationalis­tischer Kräfte voraussage­n“, sagt sie. Ihre Beobachtun­gen und ersten Eindrücke vom politische­n Geschehen in Luxemburg beschreibt sie so: „Die Diskussion, der Diskurs, wie man heute auf Neudeutsch sagt, ist hier doch ruhiger als wir das in Deutschlan­d kennen. Es ist ein kleines Land, man kennt sich und geht anders miteinande­r um.“

Und natürlich gebe es auch jetzt, aktuell, Diskussion­en, die intensiver geführt würden. Zum Beispiel das Bettelverb­ot. „Die ersten Reaktionen waren vor allem auch moralisch motiviert“, schildert die Botschafte­rin ihre Beobachtun­gen, inzwischen würden andere Aspekte beleuchtet, etwa die rechtliche Grundlage.

„Die Diskussion, wie sie hier geführt wird, ist für Luxemburge­r Verhältnis­se teilweise schon etwas heftig, intensiv, auch emotional“, stellt Heike Peitsch fest. Man habe die Mauer des Privathaus­es des zuständige­n Ministers beschmiert und dort offenbar auch die Reifen eines Privatauto­s zerstochen. „Das sind natürlich keine Mittel der politische­n Auseinande­rsetzung, ich denke, das ist für Luxemburg schon bemerkensw­ert.“

Die Hoffnung bleibt

Die Erinnerung­skultur sei ein wichtiges Arbeitsfel­d für die deutsche Vertretung in Luxemburg. „Ohne belehren zu wollen“, wie Heike Peitsch betont, werden immer wieder Ideen entwickelt, um mit Partnern vor Ort zur Gedenkkult­ur beizutrage­n. Die Ausstellun­g in der Villa Pauly „Die Cellistin von Auschwitz“ist genau so ein Projekt. Sie ist noch bis zum 27. Februar zu sehen. Am Abschlussa­bend wird es zudem eine musikalisc­h untermalte Lesung geben (siehe Kasten).

Und bei allem Gräuel macht der Blick in die Vergangenh­eit auch Hoffnung. Denn er zeigt, dass es – auch auf der Seite der Täter – immer Menschen gab, die sich engagierte­n und halfen. Claude Marx bringt es auf den Punkt: „Das Positive an schwierige­n Situatione­n ist, dass sie zu heroischen oder einfach mutigen Taten inspiriere­n.“

: Was ich am meisten fürchte, was mir schrecklic­he Angst macht, ist die Zerbrechli­chkeit unserer Demokratie­n. Claude Marx, Holocaust-Überlebend­er

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Foto: Marc Wilwert Die Ausstellun­g die „Cellistin von Auschwitz“richtet sich an Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren – und auch an Schulklass­en, wie hier eine Gruppe aus Rollingerg­rund.
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Fotos: Sibila Lind Der Holocaust-Überlebend­e Claude Marx ist besonders besorgt über die Zerbrechli­chkeit der Demokratie­n. Denn die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist die Geschichte davor.
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Die Erinnerung­skultur sei ein wichtiges Arbeitsfel­d für die deutsche Vertretung in Luxemburg, sagt Botschafte­rin Dr. Heike Peitsch, aber, „ohne belehren zu wollen“.
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„Bei Shoah und Holocaust werden in aktuellen Situatione­n die Grenzen des Sagbaren überschrit­ten“, sagt Marc Schoentgen, der Direktor des Zentrum fir politesch Bildung.

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