Schwarzer Lavendel
113
Er war völlig willenlos in einem Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.
82. Kapitel
Isabelle versuchte seit über einer Stunde, Leon auf dem Handy zu erreichen, aber jedes Mal meldete sich nur die Mailbox.
Die Gendarmerie nationale brauchte dringend die Hilfe ihres Médecin légiste.
Ein Streifenwagen hatte den Leihwagen von Anna Winter entdeckt. Er stand unabgeschlossen auf einem Parkplatz am Strand, aufgebockt mit einem Wagenheber und ohne linkes Vorderrad. Aber bei keiner Werkstatt oder Tankstelle in der Gegend war eine junge Frau aufgetaucht, die ihren Reifen reparieren lassen wollte.
Isabelle fiel sofort der Wagen von Susan Winter ein, den sie aus dem Teich gezogen hatten. Da hatte auch ein platter Reifen im Kofferraum gelegen. Das konnte kein Zufall sein.
Die Gendarmerie nationale suchte mit allen zur Verfügung stehenden Einsatzfahrzeugen nach Anna Winter. Der Mietwagen musste dringend auf DNASpuren untersucht werden. Und ausgerechnet jetzt war Doktor Ritter nicht erreichbar.
Dabei hatte Isabelle mit Leon verabredet, dass er nach dem Besuch beim Notar in ihrem Büro vorbeikommen sollte.
Sie wollten zusammen essen gehen. Er war schon seit zwei Stunden überfällig.
Isabelle fing an, sich Sorgen zu machen, als ihr Telefon klingelte. Es war eine Mitarbeiterin der Universität in Aix. Sie entschuldigte sich bei Isabelle für den späten Anruf, aber sie hatte heute Nachmittag einem Lieutenant Kadir eine falsche Auskunft gegeben. Ein gewisser Alexandre Lavalette war zwar nie Student an der Uni gewesen, aber er hatte dort als Dozent gearbeitet, und zwar in den Jahren 1988 bis 1991. Das wollte sie unbedingt richtigstellen.
Isabelle bedankte sich und rief bei Notar Lavalette an, aber auch dort meldete sich niemand.
Isabelle fühlte eine Unruhe in sich aufsteigen. Wo war Leon?
Sie stand auf und zog die Schublade ihres Schreibtischs auf, da lag ihre Dienstwaffe.
Isabelle zögerte einen Moment, dann griff sie nach der Sig Sauer, schob sie in ihr Gürtelhalter und verließ das Büro.
83. Kapitel
Leon war entsetzlich übel. Das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, hatte ihn geweckt.
Er öffnete die Augen und sah, dass er auf einem Stuhl saß. Der Stuhl war aus Holz, hart und abgenutzt. Leon konnte sich nicht bewegen. Etwas stimmte hier nicht.
Er musste würgen und wollte aufstehen, aber er konnte nicht. Jemand hatte seine Hände am Stuhl festgebunden. Wo war er? Vor ihm war diese helle Neonleuchte. Warum machte niemand die verdammte Lampe aus?
Leon hob den Kopf. Nur eine kleine Bewegung, aber sie schien ewig zu dauern. Dann sah er die Frau.
Sie war nackt und rücklings auf einem stabilen Tisch mit einer dicken Resopalplatte fixiert. Die Frau sah Leon direkt ins Gesicht. Sie wirkte so traurig, dachte Leon. Traurig und ohne jede Hoffnung. Mit ihren weit geöffneten Augen schien sie durch ihn hindurchzusehen.
Leon versuchte, sich zu konzentrieren. Er war dieser Frau schon einmal begegnet. In der Klinik. Richtig, sie war verletzt worden – Anna Winter. Jetzt sah er, dass am rechten Arm der Frau ein Infusionsschlauch angeschlossen war, der in einer großen braunen Plastikflasche endete, die an einem verchromten Ständer hing. Noch war das kleine Ventil im Schlauch geschlossen. Aber nur eine halbe Drehung, und die Flüssigkeit würde in die Vene der Frau fließen.
Leon kannte diese rollbaren Infusionshalter aus der Klinik. Aber das hier war nicht die Klinik. Was war das für ein Ort, der so grau und totenstill war? Erst jetzt fiel Leon der Mann auf, der da an einer Ablage mit medizinischen Geräten hantierte. Als der Mann sich umwandte, erkannte er ihn sofort: Lavalette.
Er trug eine lange Gummischürze, und in der Hand hielt er eine Spritze.
„Thiopental“, sagte Lavalette. „Ich muss Ihnen ja nicht erklären, was es bewirkt.“
Leon wollte etwas sagen, wie: „Lassen Sie uns doch reden.“
Aber er konnte nicht sprechen, nur ein paar kehlige Laute drangen aus seinem Mund, der keine Worte mehr bilden wollte.
„Sie haben jetzt die einmalige Chance, Zeuge eines ungeheuren Ereignisses zu werden, oder Sie sagen nein und bekommen noch eine Spritze“, sagte Lavalette.
„Sie entscheiden.“
Nein, um Himmels willen, nein, dachte Leon. Hier passieren entsetzliche Dinge. Nein, wollte er schreien. Aber alles, was er herausbrachte, war ein Keuchen.
„Ich interpretiere das als Zustimmung“, sagte Lavalette und legte die Spritze in das kleine Regal zurück.
„Eine kluge Entscheidung, obwohl …“, er drehte sich zu Leon herum, "… Sie werden gleich verstehen, dass unser Geheimnis niemals diesen Raum verlassen darf. Aber seien Sie unbesorgt. Ich werde mich darum kümmern.“
Leon keuchte.
„In jedem Menschen wohnt ein Tier“, sagte Lavalette.
„Ein böses, zerstörerisches Tier, das nur seinen dunkelsten Trieben folgt. Blut und Lust. Aber der Mensch ist in seinem tiefen Inneren gut. Alles, was man tun muss, ist, diesen Körper zu reinigen, damit das Gute aus der Hölle in uns emporsteigt wie das klare Wasser in einer Quelle.“
Der Mann hatte sich Gummihandschuhe übergezogen und nahm ein schmales Skalpell aus einer Plastikhülle. Leon konnte seinen zufriedenen Blick sehen, als er die Klinge betrachtete.
„Der Weg durch die Hölle ist mit Glut und Flammen gepflastert. Aber nur wer diesen Weg geht, wird Reinigung erfahren“,sagte Lavalette.
Leon spürte, wie ganz langsam seine Kraft zurückkehrte.
Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, ISBN 9783-86493-216-8