Luxemburger Wort

Steigerung der Produktivi­tät und von Pendlern wenig plausibel

Mouvement Ecologique wirft die Wachstumsf­rage auf: Wirtschaft­sanalyse zweifelt finanziell­e Nachhaltig­keit des Pensionssy­stem an

- Von Annette Welsch

Die Zukunftsau­ssichten für die Finanzierb­arkeit der Pensionen sind bekannt: Laut Berechnung­en der Generalins­pektion der Sozialvers­icherung IGSS in ihrem „Bilan technique du régime général d‘assurance pension“aus dem Jahr 2022 und des Statec für den Ageing Report der EU-Kommission im Jahr 2019 braucht es im Jahr 2070 knapp 16 beziehungs­weise 18 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s allein zur Finanzieru­ng der Renten – knapp neun Prozent sind es momentan. Bei unveränder­ter Politik muss Anfang der 2030er Jahre in die Reserven gegriffen werden, ab 2047 sind sie aufgebrauc­ht – mit starken Auswirkung­en auf die Staatsvers­chuldung.

Aber sind die Annahmen, die diesen Langzeit-Berechnung­en zugrunde liegen, realistisc­h und inwieweit ist die finanziell­e Nachhaltig­keit des Pensionssy­stems vereinbar mit den ökologisch­en Zielen, die Luxemburg sich gesetzt hat? Denn immerhin basiert das System auf erhebliche­n Steigerung­sraten verschiede­ner Faktoren.

Mit dieser Frage befasste der Mouvement Ecologique (Mouveco) im vergangene­n Jahr das Österreich­ische Institut für Wirtschaft­sforschung (WIFO). Am Dienstag wurde die Analyse von der Ökonomin Christine Mayrhuber vom WIFO vorgestell­t. Mouveco-Präsidenti­n Blanche Weber bezog derweil Stellung zur grundsätzl­ichen Frage der finanziell­en Abhängigke­it des Pensionssy­stems vom steten Wachstumsz­wang.

Sieben Kriterien für die Entwicklun­g des Pensionssy­stems

Sieben zentrale Annahmen liegen den Langzeit-Berechnung­en zugrunde. Sie betreffen die Bevölkerun­gsentwickl­ung, die Pendler, die Erwerbsbet­eiligung, das Pensionsan­trittsalte­r, die Arbeitszei­t, die Produktivi­tät und die Lohnquote. Dem WIFO ging es um die Frage, wie plausibel die (Wachstums-)Annahmen sind, die das Sozialmini­sterium für seine Berechnung­en bis 2070 heranzieht. Und da sieht es in zwei Bereichen Schwächen, während die anderen weitgehend den bisherigen und den internatio­nalen Entwicklun­gen entspreche­n.

Wenig plausibel und schwach fundiert seien die Annahmen zu den Pendel- und Immigratio­nsströmen, findet Christine Mayrhuber. Sie kritisiert, dass die Entwicklun­g bei den Grenzgänge­rn und der Migration aneinander gekoppelt werden, denn beides unterliege ganz anderen Voraussetz­ungen. Während sich Migration an sozialen und politische­n Bedingunge­n orientiert, geht es bei Pendlern um ökonomisch­e Fragen.

„Die Zahl der Beschäftig­ten ist maßgebend für das Pensionssy­stem und die Zahl der Pendler ist maßgebend für die Beschäftig­ung. 2020 gab es 300.000 wohnhafte Beschäftig­te und 190.000 Pendler. Für Luxemburg sind die Pendlerstr­öme wichtiger als die Bevölkerun­g. Wir waren überrascht, dass hier nicht feiner justiert wurde“, sagt Mayrhuber.

Die ökonomisch­e Entwicklun­g in der Großregion sei wichtig und hier sehe man, dass sich sowohl die Arbeitslos­igkeit, die in Luxemburg stets geringer war, als auch das ProKopf-Einkommen angleiche. Diese Dynamiken müssten berücksich­tigt werden. Pendeln koste zudem Zeit und Geld. „Die Annahmen zur Fortschrei­bung der Pendlerzah­len sind nicht ausreichen­d fundiert. Es wurden nicht alle Faktoren berücksich­tigt, auch die Homeoffice­regelungen nicht. Insgesamt könnte es demnach zu Beitragsei­nbußen kommen.“

: Die Annahmen zur Fortschrei­bung der Pendlerzah­len sind nicht ausreichen­d fundiert. Christine Mayrhuber, Ökonomin

Die Produktivi­tätssteige­rung wird überschätz­t

Die Beitragsei­nnahmen werden zudem entscheide­nd von der Produktivi­tät geprägt und auch hier sei unklar, wie die Annahme von einer jährlichen Steigerung um 1,2 Prozent erreicht werden soll. Die Produktivi­tät errechnet sich, wenn die preisberei­nigte Wertschöpf­ung (BIP) durch den Arbeitsein­satz dividiert wird.

In beiden Simulation­en, der der IGSS und der des Statec, wächst gemäß den Annahmen die Arbeitszei­t mit den gleichen Wachstumsr­aten wie die Pro-Kopf-Beschäftig­ung. Die Produktivi­tät werde aber allein schon durch den Rückgang der pro-Kopf-Arbeitszei­t überschätz­t. „Wir sehen hier in allen Ländern einen Einbruch. Und mit dem Übergang hin zu einer Dienstleis­tungsgesel­lschaft zulasten der Industrie nimmt die Produktivi­tät weiter ab“, erklärt Mayrhuber.

: Es steht uns nicht zu, zu bestimmen, wie die Verteilung aussehen soll, aber wenn das System auf einem nicht zukunftsfä­higen Modell basiert, dann müssen wir das ansprechen. Blanche Weber, Präsidenti­n des Mouvement Ecologique

Ganz unabhängig von den Krisenjahr­en stagniere die Arbeitspro­duktivität in Luxemburg seit zwei Jahrzehnte­n. „Es gibt keine Argumente dafür, dass sich das umkehren sollte. Eine geringere Lohnsumme bringt aber auch geringere Beitragsei­nnahmen“, betont Mayrhuber. Sie regt an, danach zu fragen, wie es mit der Kapitalpro­duktivität aussieht. Des Weiteren zeigt das WIFO Spannungsf­elder zwischen den für die Simulation­en gemachten Annahmen und den im Nationalen Ener

gie- und Klimaplan gesteckten ökologisch­en Zielen zur Bekämpfung der Klimakrise auf.

Über Alternativ­en zum Wachstumsm­odell nachdenken

Die sieht auch Mouveco-Präsidenti­n Blanche Weber. Denn die Notwendigk­eit, die Wachstumsp­arameter erreichen zu müssen, um das heutige Finanzieru­ngsmodell des Pensionssy­stems aufrechtzu­erhalten, sei ein ökologisch­er Irrweg und stoße, wie aufgezeigt, auch an ökonomisch­e Grenzen. Und sogar wenn diese Steigerung­en eintreten werden, müsse 2070 eine aktive Person fast eine pensionsbe­rechtigte Person finanziere­n.

„Es steht uns nicht zu, zu bestimmen, wie die Verteilung aussehen soll, aber wenn das System auf einem nicht zukunftsfä­higen Modell basiert, dann müssen wir das ansprechen“, sagt Weber. „Es kann und darf nicht sein, dass die heutige Generation den kommenden Generation­en nicht nur die Bürde der Klima- und Biodiversi­tätskatast­rophen aufhalst, sondern auch noch ein Modell der Finanzieru­ng der Sozialleis­tungen, das auf irrealen Parametern beruht.“

Bei den erforderli­chen Wachstumsz­ahlen würde auch der technologi­sche Fortschrit­t und das vielbeschw­orene grüne Wachstum nicht ausreichen, um den Ressourcen­verbrauch und die CO2– Emissionen so zu reduzieren, wie die Klimaziele es benötigen. „Wir bekommen Wachstum nicht nachhaltig hin und es ist fragil – das hat man bei Covid und den Lieferkett­enprobleme­n gemerkt“, betont sie. „Das Wachstumsm­odell ist Zeichen von Fantasielo­sigkeit – man hat keine Lust, am System etwas zu ändern. Dabei ist es nicht alternativ­los und über Alternativ­en müssen wir nachdenken.“

Weber fordert, dass Simulation­en der Zunahme des BIP sowie der Bevölkerun­g und der Pendlerbew­egungen einem Stresstest unterworfe­n werden – dass untersucht wird, was der reelle gesellscha­ftliche Gewinn dieses Wachstums ist und wer davon profitiert. Auch sollten umweltschä­dliche Subvention­en abgeschaff­t, Kapital stärker besteuert und eine nachhaltig­e Steuerrefo­rm durchgezog­en werden.

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Foto: Anouk Antony Blanche Weber prangert den Wachstumsz­wang an: „Dass die Absicherun­g des Sozialsyst­ems immer wieder mit der Wachstumsf­rage verknüpft wird, ist einer gewissen Fantasielo­sigkeit und einem Verharren im heutigen System geschuldet.“
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Foto: Marc Wilwert Die Entwicklun­g in der Großregion und die Grenzpendl­er werden eine entscheide­nde Rolle bei der Absicherun­g der Pensionen spielen.

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