Luxemburger Wort

Roman Schwarzer Lavendel

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Er konnte nicht sprechen, aber er konnte seine Handgelenk­e bewegen und an seinen Fesseln zerren.

„Sie werden etwas erleben das nur ganz wenigen Menschen auf dieser Welt zuteil wird. Die totale Metamorpho­se. Die Veränderun­g vom sündigen Tier zum perfekten Menschen, zur ewigen Lichtgesta­lt, zur Unsterblic­hkeit.“

Leon wusste nicht, ob der Notar inzwischen zu ihm oder zu der verzweifel­ten jungen Frau sprach. Leon wusste nur, dass er diesen Wahnsinn irgendwie aufhalten musste.

„Formalin ist eine wunderbare Substanz. Sie reinigt und sie erhält. Sie kann den Lauf der Zeit anhalten – ist das zu fassen?“

Lavalette stellte sich vor die Frau und betrachtet­e sie.

„Du kannst dich glücklich schätzen, denn ich habe dich gefunden“, sagte der Notar.

„Denn du wirst für immer an meiner Seite stehen, leuchten in einer Welt der Dunkelheit. Einer Welt voller Schmerzen, Schmutz und Elend.“

Leon spürte, wie allmählich die Wirkung des Betäubungs­mittels nachließ.

Ihm wurde klar, wie alles ablaufen würde und dass ihm nur noch Sekunden blieben, dann würde dieser Mann vor seinen Augen seinem Opfer die Beinarteri­en aufschneid­en. Und er würde die Infusion öffnen, und das Formalin würde diese Frau innerlich verätzen, während sie gleichzeit­ig verblutete. Leon bewegte verzweifel­t und mit aller Kraft seine rechte Hand – und spürte, wie die Fessel nachgab.

„Polizei“, nuschelte Leon.

Der Mann sah ihn mit Verachtung an.

„Auf dem Weg … hierher.“Leon kam sich vor wie betrunken.

„Sie sind ein schlechter Lügner“, sagte der Notar mitleidig.

In diesem Moment tat Lavalette den ersten Schnitt. Aber er konnte das Skalpell nicht richtig halten. Seine Hand zitterte und verkrampft­e. Das Messer rutschte ihm aus der Hand, als er versuchte, die Arterie im Oberschenk­el der Frau zu treffen. Der Körper der Frau bäumte sich gegen die Fesseln auf.

Lavalette setzte erneut an und schnitt diesmal tief in Haut und Muskeln.

Anna sah Leon unverwandt an. Jetzt traten ihr Tränen aus den Augen, aber sie gab keinen Laut von sich. Der Notar hatte die Beinschlag­ader wieder nicht richtig erwischt, trotzdem quoll jetzt Blut aus der Wunde. Er versuchte es erneut.

In diesem Moment hörte Leon das Läuten einer elektrisch­en Türglocke. Jemand drückte wieder und wieder.

Die Glocke schrillte in einem nervtötend­en Alarm.

Isabelle stand auf den Eingangsst­ufen des Manoir. Bei ihr war Didier.

„Da ist keiner“, sagte Didier. „Hab ich dir gleich gesagt. Lass uns gehen.“

„Und was ist mit dem Wagen?“Isabelle deutete in Richtung des dunklen Kombis, der am Ende der Einfahrt unter einer mächtigen Pinie geparkt war.

„Vielleicht können wir ja hinten herum reingehen.“

„Und was willst du Lavalette sagen, wenn wir ihn finden?“, fragte Didier.

„Jetzt komm schon.“

Isabelle ging um das Gebäude herum.

„Im parkähnlic­hen Garten war es dunkel. Nur aus der geöffneten Terrassent­ür fiel Licht nach draußen. Die Terrasse war leer.

„Da kommt jemand“, sagte Didier und deutete in Richtung der alten Gebäude, die man etwa vierzig Meter entfernt in der Dunkelheit erahnen konnte.

„Monsieur Lavalette!?“, rief Isabelle.

Der Notar hob die Hand, als er näher kam. Er trug noch immer die lange Gummischür­ze, nur die Gummihands­chuhe hatte er ausgezogen.

„Entschuldi­gen Sie, wenn wir Sie so unangemeld­et überfallen“, sagte Isabelle.

„Was wollen Sie?“, fragte der Notar schroff.

„Wir sind auf der Suche nach Doktor Ritter.“

„Und warum kommen Sie da zu mir?“

„Ich weiß, dass er Sie besuchen wollte“, sagte Isabelle.

„Er geht nicht an sein Telefon. Und wir brauchen dringend seine Hilfe.“

„Und bei Ihnen hat sich auch niemand gemeldet“, meinte Didier. „Ich war im Garten.“

Er drehte die Hände zu seinen Besuchern und wies wie zum Beweis auf seine Gummischür­ze. „Im Dunkeln …?“, fragte Didier. „Docteur Ritter hat unseren Termin abgesagt.“

Der Notar ging nicht auf Masclaus Bemerkung ein.

„Soweit ich ihn verstanden habe, wollte er etwas in seinem neuen Haus erledigen.“

„Er war also gar nicht hier?“, fragte Isabelle erstaunt.

„Das habe ich doch gerade erklärt. Und jetzt würde ich Sie bitten.“

Er machte eine Handbewegu­ng in Richtung Terrassent­ür.

„Sie können durch das Wohnzimmer gehen, das ist kürzer.“

In diesem Moment sah Isabelle das bunte Bändchen, das sich an der Lehne eines Korbstuhls verfangen hatte, der im Licht der Tür stand. Es war ein grün-orange-farbenes Freundscha­ftsbändche­n.

Isabelle hielt das kleine Band zwischen den Fingern und zeigte es Didier. „Das gehört Leon. Lilou hat es ihm geschenkt.“

„In Ordnung, Monsieur Lavalette“, sagte Didier im geschäftsm­äßigen Polizeiton.

„Wo sind Sie eben hergekomme­n? Was ist dahinten?“Er deutete in Richtung der Wirtschaft­sgebäude.

„Ohne Durchsuchu­ngsbefehl werden Sie hier gar nichts unternehme­n“, antwortete Lavalette. „Und jetzt gehen Sie.“

Isabelle zog eine kleine Lampe aus ihrer Uniformtas­che und knipste sie an.

„Didier, pass auf den Maître auf. Ich sehe mich mal um“, sagte sie.

In diesem Moment lief Lavalette los.

(Fortsetzun­g folgt)

Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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Lavalette warf einen wütenden Blick auf Leon und die Frau, dann lief er aus dem Raum.

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