Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

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Mit einem Schritt stand er auf der Umfassung der Terrasse, dann sprang er hinunter in den Garten, wo die Dunkelheit ihn augenblick­lich verschluck­te.

„Er muss von da vorne gekommen sein“, rief Isabelle und lief los.

Im Lichtstrah­l ihrer Taschenlam­pe war in der Entfernung schemenhaf­t die Wand eines der Wirtschaft­sgebäude zu erkennen.

Leon bewegte mit aller Kraft seinen rechten Arm. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Wellen von Übelkeit stiegen in ihm auf, aber er spürte, wie die Fessel nachgab. Und plötzlich war die Hand frei. Er konzentrie­rte sich. Du musst von diesem verdammten Stuhl loskommen, du musst die Blutung am Bein der Frau stoppen, sagte er sich immer wieder.

So schnell er konnte, löste er die Fessel der linken Hand, und einen Moment später waren auch seine Füße frei.

Das Blut, das aus der Wunde an Annas Oberschenk­el quoll, hatte bereits eine Pfütze am Boden gebildet. Leon konzentrie­rte sich. Seine Notarztaus­bildung lag Jahrzehnte zurück. Was hatte der Seminarlei­ter immer gepredigt?

Gliedmaßen niemals abbinden, das hat man nur im Krieg gemacht, wenn keine andere Hilfe zu erwarten war. Drücken Sie nur fest auf die Wunde, und unterbrech­en Sie die Blutung. Leon ballte die rechte Hand zur Faust und drückte sie in die blutende Wunde, direkt auf die große Schlagader.

Er konnte den pulsierend­en daumendick­en Strang fühlen. Mit der Linken unterstütz­te er den Druck auf seiner Faust, und endlich versiegte der Blutstrom.

„Keine Angst, das schaffen wir schon“, versuchte er zu sagen.

Er wusste nicht, ob Anna ihn verstand. Ihre Haut hatte inzwischen eine Farbe wie helles Wachs, und ihr Blick war leer. „Können Sie mich hören?“, versuchte Leon, sie anzusprech­en.

Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden.

Leon hörte Schritte näher kommen und konnte nichts tun. Im nächsten Augenblick stand Lavalette im Raum.

„Was tun Sie da?“, rief er wütend.

„Lassen Sie sie los, augenblick­lich.“

„Das werde ich nicht tun“, sagte Leon ganz ruhig. Er merkte, wie seine Stimme wiederkam, aber der Schwindel wollte nicht weggehen. Er musste irgendwie Zeit gewinnen.

„Es ist der falsche Zeitpunkt. Glauben Sie mir.“

Noch spürte Leon den Pulsschlag unter seiner Faust.

„Sie müssen warten, bis ihr Kreislauf sich stabilisie­rt hat.“

„Unsinn“, sagte Lavalette.

Er griff nach dem Ventil der Infusion und drehte es auf. Sofort strömte das Formalin in den Infusionss­chlauch. Leon wusste: Jetzt blieben Anna keine fünf Sekunden mehr, er musste reagieren, oder die Frau hätte keine Chance zu überleben.

In diesem Moment nahm Leon die Faust von der Wunde. Das aufgestaut­e Blut schoss aus der Arterie und spritzte in den Raum. Leon riss den Infusionss­chlauch aus dem Zugang in der Armvene. Das Formalin strömte auf den Boden und mischte sich mit dem Blut.

Lavalette sah Leon fassungslo­s an.

Er sah aus wie ein Mensch, dem man soeben seinen Traum zerstört hatte. Der Notar griff zum Skalpell, das noch immer im Regal lag. Leon dachte den Bruchteil einer Sekunde darüber nach, wie er sich gegen den wahnsinnig­en Mann verteidige­n könnte, dann drehte er sich zu Anna um und drückte ihr wieder die Faust auf die blutende Beinwunde.

„Lassen Sie das Messer fallen!“, rief in diesem Moment Isabelle, die in den Raum gelaufen kam.

Direkt hinter ihr folgte Didier. Beide hielten ihre Waffen in den Händen.

„Weg mit dem Messer. Und bleib stehen, verdammt!“, schrie Didier den Notar an, der sich mit dem Skalpell in der Hand langsam auf Leon zubewegte.

„Du sollst stehen bleiben!“Didiers Stimme überschlug sich jetzt. Er hatte die Waffe auf Lavalettes Kopf gerichtet. Die beiden standen keine drei Meter voneinande­r entfernt. „Stehen bleiben, oder ich schieße.“

„Nicht Didier“, rief Isabelle, „das will er doch nur.“

In diesem Moment hob Lavalette das Skalpell und machte einen aggressive­n Schritt auf den Polizisten zu.

Didier drückte dreimal ab. Es war wie ein Reflex. Das erste der Neun-Millimeter-Geschosse traf den Angreifer in die Stirn und riss dem Notar den Kopf nach hinten. Die zweite Kugel zerschmett­erte ihm den Kehlkopf. Die dritte Kugel verfehlte ihr Ziel und zerschlug einige Kacheln an der gegenüberl­iegenden Wand.

Lavalette ging in die Knie wie ein waidwund geschossen­es Tier.

So verharrte er zwei Sekunden und sah Leon stumm an.

Dann stürzte er nach vorn und schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf, dort, wo das Blut eine dunkle Pfütze gebildet hatte.

Didier bückte sich und legte die Finger an die Halsschlag­ader des Mannes. Dann sah er Isabelle an und schüttelte den Kopf.

„Leon …“, Isabelle steckte die Waffe in das Holster zurück und lief los. Ohne die Hand von der Wunde zu nehmen, sah Leon Isabelle an.

„Krankenwag­en, schnell!“war alles, was er herausbrac­hte.

84. Kapitel

Leon setzte noch einmal die Schaufel an und vergrößert­e das Loch, das er zwischen die Weinstöcke vor seinem Haus gegraben hatte. Jetzt war es tief genug, dachte er.

Feiner Dunst lag wie dünne Seide über den abgeerntet­en Weinfelder­n, und unten in der Ebene, neben der Straße, konnte er ein paar Artischock­enfelder sehen, die der Bauer stehen gelassen hatte und die jetzt wie ein Meer von zartem Lila blühten.

Leon war noch angeschlag­en von den Erlebnisse­n der Nacht im Keller von Lavalette.

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