Schwarzer Lavendel
115
Mit einem Schritt stand er auf der Umfassung der Terrasse, dann sprang er hinunter in den Garten, wo die Dunkelheit ihn augenblicklich verschluckte.
„Er muss von da vorne gekommen sein“, rief Isabelle und lief los.
Im Lichtstrahl ihrer Taschenlampe war in der Entfernung schemenhaft die Wand eines der Wirtschaftsgebäude zu erkennen.
Leon bewegte mit aller Kraft seinen rechten Arm. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Wellen von Übelkeit stiegen in ihm auf, aber er spürte, wie die Fessel nachgab. Und plötzlich war die Hand frei. Er konzentrierte sich. Du musst von diesem verdammten Stuhl loskommen, du musst die Blutung am Bein der Frau stoppen, sagte er sich immer wieder.
So schnell er konnte, löste er die Fessel der linken Hand, und einen Moment später waren auch seine Füße frei.
Das Blut, das aus der Wunde an Annas Oberschenkel quoll, hatte bereits eine Pfütze am Boden gebildet. Leon konzentrierte sich. Seine Notarztausbildung lag Jahrzehnte zurück. Was hatte der Seminarleiter immer gepredigt?
Gliedmaßen niemals abbinden, das hat man nur im Krieg gemacht, wenn keine andere Hilfe zu erwarten war. Drücken Sie nur fest auf die Wunde, und unterbrechen Sie die Blutung. Leon ballte die rechte Hand zur Faust und drückte sie in die blutende Wunde, direkt auf die große Schlagader.
Er konnte den pulsierenden daumendicken Strang fühlen. Mit der Linken unterstützte er den Druck auf seiner Faust, und endlich versiegte der Blutstrom.
„Keine Angst, das schaffen wir schon“, versuchte er zu sagen.
Er wusste nicht, ob Anna ihn verstand. Ihre Haut hatte inzwischen eine Farbe wie helles Wachs, und ihr Blick war leer. „Können Sie mich hören?“, versuchte Leon, sie anzusprechen.
Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden.
Leon hörte Schritte näher kommen und konnte nichts tun. Im nächsten Augenblick stand Lavalette im Raum.
„Was tun Sie da?“, rief er wütend.
„Lassen Sie sie los, augenblicklich.“
„Das werde ich nicht tun“, sagte Leon ganz ruhig. Er merkte, wie seine Stimme wiederkam, aber der Schwindel wollte nicht weggehen. Er musste irgendwie Zeit gewinnen.
„Es ist der falsche Zeitpunkt. Glauben Sie mir.“
Noch spürte Leon den Pulsschlag unter seiner Faust.
„Sie müssen warten, bis ihr Kreislauf sich stabilisiert hat.“
„Unsinn“, sagte Lavalette.
Er griff nach dem Ventil der Infusion und drehte es auf. Sofort strömte das Formalin in den Infusionsschlauch. Leon wusste: Jetzt blieben Anna keine fünf Sekunden mehr, er musste reagieren, oder die Frau hätte keine Chance zu überleben.
In diesem Moment nahm Leon die Faust von der Wunde. Das aufgestaute Blut schoss aus der Arterie und spritzte in den Raum. Leon riss den Infusionsschlauch aus dem Zugang in der Armvene. Das Formalin strömte auf den Boden und mischte sich mit dem Blut.
Lavalette sah Leon fassungslos an.
Er sah aus wie ein Mensch, dem man soeben seinen Traum zerstört hatte. Der Notar griff zum Skalpell, das noch immer im Regal lag. Leon dachte den Bruchteil einer Sekunde darüber nach, wie er sich gegen den wahnsinnigen Mann verteidigen könnte, dann drehte er sich zu Anna um und drückte ihr wieder die Faust auf die blutende Beinwunde.
„Lassen Sie das Messer fallen!“, rief in diesem Moment Isabelle, die in den Raum gelaufen kam.
Direkt hinter ihr folgte Didier. Beide hielten ihre Waffen in den Händen.
„Weg mit dem Messer. Und bleib stehen, verdammt!“, schrie Didier den Notar an, der sich mit dem Skalpell in der Hand langsam auf Leon zubewegte.
„Du sollst stehen bleiben!“Didiers Stimme überschlug sich jetzt. Er hatte die Waffe auf Lavalettes Kopf gerichtet. Die beiden standen keine drei Meter voneinander entfernt. „Stehen bleiben, oder ich schieße.“
„Nicht Didier“, rief Isabelle, „das will er doch nur.“
In diesem Moment hob Lavalette das Skalpell und machte einen aggressiven Schritt auf den Polizisten zu.
Didier drückte dreimal ab. Es war wie ein Reflex. Das erste der Neun-Millimeter-Geschosse traf den Angreifer in die Stirn und riss dem Notar den Kopf nach hinten. Die zweite Kugel zerschmetterte ihm den Kehlkopf. Die dritte Kugel verfehlte ihr Ziel und zerschlug einige Kacheln an der gegenüberliegenden Wand.
Lavalette ging in die Knie wie ein waidwund geschossenes Tier.
So verharrte er zwei Sekunden und sah Leon stumm an.
Dann stürzte er nach vorn und schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf, dort, wo das Blut eine dunkle Pfütze gebildet hatte.
Didier bückte sich und legte die Finger an die Halsschlagader des Mannes. Dann sah er Isabelle an und schüttelte den Kopf.
„Leon …“, Isabelle steckte die Waffe in das Holster zurück und lief los. Ohne die Hand von der Wunde zu nehmen, sah Leon Isabelle an.
„Krankenwagen, schnell!“war alles, was er herausbrachte.
84. Kapitel
Leon setzte noch einmal die Schaufel an und vergrößerte das Loch, das er zwischen die Weinstöcke vor seinem Haus gegraben hatte. Jetzt war es tief genug, dachte er.
Feiner Dunst lag wie dünne Seide über den abgeernteten Weinfeldern, und unten in der Ebene, neben der Straße, konnte er ein paar Artischockenfelder sehen, die der Bauer stehen gelassen hatte und die jetzt wie ein Meer von zartem Lila blühten.
Leon war noch angeschlagen von den Erlebnissen der Nacht im Keller von Lavalette.