Schwarzer Lavendel
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Und es würde eine ganze Weile dauern, bis er die Bilder vergessen könnte. Aber das Wichtigste war, dass Anna die Tortur überlebt hatte.
Seit ihrer Einlieferung in die Klinik in jener Nacht waren zwei Tage vergangen. Heute war sie von der Intensivstation auf ein Krankenzimmer verlegt worden.
Leon hatte sie schon zweimal besucht, zum Glück konnte sie sich an nichts mehr erinnern.
Sie wusste nur noch, dass sie einen Platten gehabt hatte, danach verschwammen ihre Erinnerungen.
Ihre Mutter hatte Anna nur einmal kurz auf der Intensivstation besucht.
Seitdem hatte Claudia Winter ihr Hotelzimmer nicht mehr verlassen. Sie schluckte Beruhigungsmittel und litt unter einem neuen Migräneanfall.
Isabelle und Didier waren vom Innenministerium in Paris belobigt worden. Didier hatte sich bei den Kollegen zum Lebensretter hochstilisiert und galt fortan in jedem Bistro von Le Lavandou als der Mann, der den Serienkiller zur Strecke gebracht hatte. Ein Umstand, der ihm Gratisdrinks für die nächsten Monate sichern würde. Neidisch auf Didiers Erfolg war vor allem Zerna, der sich dafür verfluchte, dass nicht er es gewesen war, der Isabelle in jener Nacht zum Notar begleitet hatte.
Inzwischen war die Polizei dabei, das Haus und das Weingut der Lavalettes auf den Kopf zu stellen.
Der Staatsanwalt rechnete damit, weitere Tote zu finden. Und die Medien spekulierten bereits genüsslich über Lavalette als vielleicht einen der „größten Massenmörder Frankreichs“, wofür es aber in Wahrheit nicht den geringsten Hinweis gab.
Leon bezweifelte sogar, dass man weitere Tote entdecken würde. Wenn der Notar wirklich noch mehr Frauen getötet haben sollte, dann hatte er deren Leichen so gut versteckt, dass sie wahrscheinlich nie gefunden würden.
Leon fühlte sich nach dem Horror jener Nacht verändert. Es kam ihm so vor, als hätten ihm die Erlebnisse einen neuen, klareren Blick auf die Welt und auf sich selber verschafft.
Es war an der Zeit, sein Leben neu zu ordnen. Darum hatte er das Loch zwischen die Weinstöcke gegraben. Leon griff nach seiner alten Aktenmappe, die neben ihm lag. Er hatte die Tasche sorgfältig verschlossen und die Lederschnalle festgezurrt.
Für einen Augenblick hielt er die Tasche in der Hand und dachte an all die Unterlagen und die falschen Hoffnungen, die darin steckten und die ihn einmal um ein Haar seinen Seelenfrieden gekostet hätten.
Dann legte er die Tasche in das Loch und schaufelte es wieder zu.
Am Schluss legte er einen Stein auf die frisch aufgeworfene Erde. Dann ging er zurück zu seinem Wagen, den er unter der Platane vorm Haus geparkt hatte, und fuhr zurück nach Le Lavandou.
Als er das Haus betrat, war Isabelle in der Küche damit beschäftigt, den Salat fürs Abendessen vorzubereiten.
„Bonsoir“, sagte Leon.
„Ich hätte den Salat schon gemacht.“
„Ich wusste nicht, ob du es zum Abendessen schaffen würdest. Ich konnte dich nicht erreichen.“
„Ich war auf einer Beerdigung“, sagte Leon.
„So? Davon hast du gar nichts erzählt“, entgegnete Isabelle überrascht.
„Ich habe die alte Aktentasche beerdigt“, erklärte Leon.
Isabelle sah ihn an und lächelte.
„Ich geh schnell hoch, wasch mir die Hände und zieh ein frisches Hemd an.“
„Warte, da muss ich dir noch was sagen“, Isabelle unterbrach sich.
„Merk’s dir, bin gleich wieder da.“
Leon lief die Treppe hinauf. Als er in sein Zimmer kam, blieb er stehen.
Das Bett war abgezogen, und über der Matratze lag eine Tagesdecke. Im Badezimmer war sein Waschzeug von der Ablage unter dem Spiegel verschwunden. Nur seine Hemden und Hosen befanden sich noch im Schrank, ansonsten sah das Zimmer so unbewohnt aus wie an dem Tag, als er eingezogen war.
Leon wusch sich die Hände, wechselte das Hemd und ging wieder runter in die Küche.
„Ich habe dir das Zimmer gekündigt“, sagte Isabelle mit ihrem charmantesten Lächeln.
„Aber …?“
Leon wusste nicht, was er sagen sollte.
„Wenn du deinen Schlafanzug suchst“, sagte Isabelle und ging zu Leon, „den habe ich in mein Bett gelegt. Ich meine natürlich nur, wenn dir das recht ist.“
Leon nahm Isabelle in die Arme und küsste sie.