Drama über Trauer und Schmerz
„All of Us Strangers“ist ein anrührendes Liebes- und Geisterdrama über zwei einsame Männer in London, in dem die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen
In der sechsten Etage eines Neubauturms mitten in London wohnt der einsame Adam (Andrew Scott). Der Drehbuchautor genießt den Blick auf die Millionenstadt, tippt zuweilen uninspiriert in seinen Computer und verbringt viel Zeit mit Träumen und Nichtstun. Eines Tages lernt er seinen jüngeren Nachbarn Harry (Paul Mescal) kennen. Die beiden kommen sich näher. Bald ist es Liebe. Ein Prinz küsst den in seiner Trauer und Einsamkeit gefangenen Helden wach – wenn es sich denn wirklich so zugetragen hat.
Man könnte den Spielfilm von Regisseur Andrew Haigh durchaus als märchenhaften Liebesfilm interpretieren. „Is this Love?“, singt Alison Moyet in dem stark von den 1980er-Jahren beeinflussten Soundtrack des Films, während die britische Popgruppe Frankie Goes to Hollywood symbolisch „The Power of Love“beschwört. Doch ist Harry wirklich der beschützende Prinz? Und wie real ist die Liebe zwischen Adam und Harry in einem Traum- und Geisterfilm, in dem nichts ist, wie es scheint?
Alte Platten & Fotoalben
„All of Us Strangers“ist vor allem ein Drama über Trauer und Schmerz. In der Figur des Adam bündeln sich diese beiden Elemente auf intensive Weise. Sie lähmen ihn und lassen ihn kaum ein normales Leben führen. Der Mann Anfang vierzig will ein Drehbuch über seine Kindheit schreiben, die, wie sich herausstellen wird, der Ursprung seines „Mal de vivre“ist. Das Skript soll 1987 spielen, in jenem Jahr, als der elfjährige Adam seine Eltern durch einen Autounfall verlor. Adam hört alte Platten, stöbert in Fotoalben und findet ein Bild seines Elternhauses. Er fährt in den Londoner Vorort, wo es immer noch steht, und irrt scheinbar ziellos durch den Ort.
Dann geschieht allerdings etwas wahrhaft Erstaunliches. Der nostalgische
Wanderer begegnet seinem Vater (Jamie Bell), der noch genauso aussieht wie früher und ihn prompt zu sich und Adams Mutter (Claire Foy) einlädt. Es folgt ein zunächst scheues, doch dann umso herzlicheres Wiedersehen. Die Eltern können ihre Freude kaum fassen, Adam als Erwachsenen kennenzulernen. Dieses Zusammentreffen, das in der Fantasie des Autors Adam stattfindet, beflügelt ihn so sehr, dass er seine Eltern immer wieder aufs Neue aufsucht. von Adams Vergangenheit und Seelenzustand.
Auch Harry öffnet sich gegenüber Adam und erzählt von seiner Außenseiterstellung in seiner sich tolerant gebenden Familie. Doch trotz der Verletzlichkeit, mit der er Adam begegnet, erscheint er wie dessen Fels in der Brandung. Er hört dem Älteren zu, tröstet ihn und bringt ihn nach Hause, nachdem dieser in einem Club unter Einfluss von Drogen zusammenbricht. Auch die Bebilderung der intimen und vertrauten Zweisamkeit der beiden Männer wird von Adams Erinnerungen unterbrochen. Manchmal gehen die Ebenen ineinander über, und Harry erscheint in der Rolle des reifen Beschützers, die Adams Vater nicht mehr ausüben kann.
Die Übergänge zwischen Wirklichkeit und (Tag-)Träumen erfolgen so natürlich, dass Mutter und Vater wie gleichberechtigte Figuren erscheinen. Auch der kaum bewohnte Hochhausturm, in dem Adam und Harry in verschiedenen Etagen wohnen, wirkt gespensterhaft. Die wiederholten Sequenzen mit Adam im Fahrstuhl unterstreichen ebenfalls sein Gleiten zwischen unterschiedlichen Zeitund Bewusstseinsebenen.
„All of Us Strangers“basiert lose auf dem Roman „Sommer mit Fremden“von Taichi Yamada, in dem das Geisterelement bereits zugrunde gelegt ist. Das Drehbuch erweitert die Handlung um die schwule Beziehung und die dazugehörige Symbolik. Adam und Harry trennen nicht nur etliche Jahre, sondern auch ein Selbstverständnis, das sich beispielsweise in der Interpretation der Begriffe „gay“und „queer“unterscheidet. Einmal meint man, dem Beginn einer Cruising-Szene beizuwohnen, doch es handelt sich nur um eine geschickte Finte. Auch die Poster in Adams Kinderzimmer und sein Musikgeschmack zwischen Pet Shop Boys und Frankie Goes to Hollywood deuten seine künftige Sexualität an. FD