Charkiw gräbt sich ein
Die unweit von Russland gelegene ukrainische Großstadt wird seit Beginn des Jahres heftig bombardiert. Manche fürchten einen neuen Angriff. Das Leben verlagert sich unter die Erde
Ein Knall riss die Familie Owarchenko um 4 Uhr am 23. Januar an der Proskury Straße im Norden Charkiws aus dem Schlaf. Eine Salve von S-300-Raketen explodierte in ihrer Stadt. Die Wände wackelten, die Fenster klirrten, die Nacht war für die Familie zu Ende. Anastasia Owarchenko kroch aus ihrem Bett und kochte erst einmal eine Kanne Kaffee.
30 Sekunden entscheiden in Charkiw über Leben und Tod. So lange braucht eine S-300Rakete für den Flug von der russischen Region Belgorod über die Grenze zur Ukraine in das 40 Kilometer entfernte Charkiw. Russische Soldaten drückten am Morgen des 23. Januar kurz vor 4 Uhr und dann nochmal kurz vor 7 Uhr auf die Zündknöpfe für insgesamt ein Dutzend S-300 Raketen.
Die 1978 in den Dienst gestellte S-300 war in der Sowjetunion für die Flugabwehr vorgesehen. Sie war nie für den Einsatz als Bodenwaffe gedacht. Die Rakete trifft Ziele am Boden zu ungenau. Es lässt sich nicht vorhersagen, wo eine S-300 einschlagen wird.
Krieg entzweit Familien
Die Owarchenkos helfen als Freiwillige der ukrainischen Armee. Sie wollten früh die Stadt verlassen, um ein Militärfahrzeug für eine Reparatur nach Kyjiw zu fahren. Sie standen drei Stunden nach den ersten Einschlägen kurz vor 7 Uhr hinter ihrem Wohnblock auf einem Parkplatz. Ihre 18jährige Tochter Maryna schloss das Auto auf. Dann fegte der Luftdruck des Einschlags die Familie von den Füßen. Hinter ihnen stürzte ein Teil des fünfstöckigen Gebäudes ein. Es zerbröselte nach dem Einschlag einer S-300 wie ein Keks in einer Staubwolke.
Das Bild von dem halbierten Wohnhaus ging am selben Tag durch die internationalen Medien. Elf Menschen starben unter den Trümmern. Eine ganze Hausgemeinschaft wurde ausgelöscht. Nur die Owarchenkos aus dem fünften Stock überlebten, weil sie an diesem Morgen nach Kyjiw fahren wollten. „Wer hätte gedacht, dass ein Militärfahrzeug auch Leben retten kann“, sagt Anastasia Owarchenko.
Jetzt lebt die Familie bei Verwandten, deren Haus nicht einmal einen Keller als Schutzraum habe, erzählt Anastasia Owarchenko. Es sei noch zu früh, an die Zukunft zu denken. Aber ihre Heimatstadt zu verlassen, käme nicht infrage, betont sie. Sie habe auch Familie in Russland. „Sie sind für den Krieg. Sie unterstützen, was mit uns passiert“, sagt Owarchenko. Würden die Owarchenkos Charkiw verlassen, hätten aus ihrer Sicht wohl die Verwandten in Russland gewonnen.
Etwas ist den Menschen in Charkiw geschehen, und es lässt sich kaum in Worte fassen. Es zeigt sich in einer verhärteten Mimik, in vor Wut funkelnden Augen. Charkiw ist mehrheitlich eine russischsprachige Stadt. Es ist die gleiche Sprache, in der russische Militärs nun den Befehl zum Abschuss von Raketen geben. Viele Bewohner Charkiws haben wie die Owarchenkos noch vor 2022 Familienfeste mit den russischen Verwandten hinter der Grenze gefeiert. Nun füllen sich die Friedhöfe in Charkiw und die Verluste löschen die Erinnerungen an Gemeinsames mit Eiseskälte aus. Anastasia Owarchenko sagt, ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie ihren russischen Verwandten nie wieder sehen will.
Etwas ist den Menschen in Charkiw geschehen, und es lässt sich kaum in Worte fassen. Es zeigt sich in einer verhärteten Mimik, in vor Wut funkelnden Augen.
Die Rettung heißt Untergrund
Die Grenzen zwischen Zivilisten und Soldaten verschwimmen in der bombardierten Stadt. Freiwillige aus der Bevölkerung unterstützen die ukrainische Armee. Sie sammeln Spenden und bringen sie mit eigenen Autos an die Frontlinie bei Kupjansk. Die Russen rücken nach der Wiedereroberung durch die ukrainische Armee im September 2022 wieder auf den rund 120 Kilometer südöstlich von Charkiw gelegenen Eisenbahnknotenpunkt vor.
Seit dem Jahreswechsel wird der Beschuss immer heftiger. Und Befürchtungen werden laut, das Trommelfeuer könnte ein Auftakt sein für einen weiteren Angriff durch russische Bodentruppen.
Die Russen könnten nach einer Einnahme Kupjanks Charkiw aus zwei Richtungen in die Zange nehmen, warnen Militärexperten. Die ukrainische Armee steht in Kupjansk immer stärker unter Druck. Ihre Artillerie rückt damit auch wieder näher an Charkiw heran. Sie zwang die Menschen schon einmal in den Untergrund. Anastasia Owarchenko gibt sich unbeeindruckt. „Sie versuchen jetzt schon seit Monaten das kleine Kupjansk zu erobern. Charkiw ist eine Millionenstadt“, sagt sie. Es klingt, als sollten die Russen ruhig kommen, um sich wie im Februar 2022 eine blutige Nase zu holen.
Nicht nur die einzelnen Menschen vergraben sich in ihre verletzten Gefühle. Die ganze Stadt weicht wie in den Kriegsmonaten immer mehr in die U-Bahn-Linien immer Untergrund aus. Eltern helfen vor einer Metalltür in der Metrostation Peremoha im Nordwesten von Charkiw ihren Kindern aus den Anoraks. Sie umarmen sie nochmal, bevor die Kinder durch die Tür in den Untergrund verschwinden.
Unterricht im U-Bahn-Tunnel
Die neue Schule ist eine von fünf Schulen unter der Erde in Charkiw. Die Stadt
verwaltung hat sie im September 2023 eröffnet. Die Lehrerin Oksana Parkhomenko unterrichtet Grundschulkinder in der Metro in verschiedenen Fächern. Sie bewegt sich dabei viel durch den Raum und spricht laut. Viele Kinder kommen ohne ausreichend Schlaf zum Unterricht. Sie liegen in ihren Betten, während Nacht für Nacht die Sirenen durch die Stadt hallen.
Die Pause um 9.30 Uhr dauert 15 Minuten. Parkhomenko hat die Spielecke geöffnet. Ihre Schüler stürzen sich auf Holzklötze und Bälle. Mit anderen Kindern spielen, mussten viele nach zwei Jahren Krieg und Online-Unterricht zuhause erst lernen.
Immerhin können sich einige Kinder in Charkiw in den U-Bahn-Schulen nun täglich für ein paar Stunden sehen. Normal sei dennoch nichts am Unterricht unter der Erde. „Mir sagen Schüler ins Gesicht, dass sie morgen tot sein könnten, wenn eine Rakete ihr Wohnhaus trifft“, erzählt sie. Parkhomenko hat ihren Schülern den Rücken zugekehrt. Sie sehen nicht, wie ihrer Lehrerin die Tränen kommen.
Der 75-jährige Japaner Fuminori Tsuchiko trägt seit 2022 alle Entbehrungen des Kriegsalltags in Charkiw mit. Er gibt auch in diesen düsteren Tagen nicht auf. Der drahtige Mann mit dem schlohweißen Bart nähert sich seinem Café im zerschossenen Norden Charkiws in einer Traube von Menschen. Viele wollen Fotos von Tsuchiko machen oder ihm die Hand schütteln. Eine lange Schlange wartet bereits vor dem „Fumi Café“auf die Ausgabe einer kostenlosen, warmen Mahlzeit. 600 Menschen können jeden Tag im Fumi Café satt werden.
Die Menschen in Charkiw nennen den Japaner voller Zuneigung „Fumi“. Tsuchiko sammelt Spenden in Japan und kauft die Lebensmittel für das kostenlose Essen ein.
Mir sagen Schüler ins Gesicht, dass sie morgen tot sein könnten, wenn eine Rakete ihr Wohnhaus trifft. Oksana Parkhomenko, unterrichtet Grundschulkinder in „Metro-Schulen“
Verständigung mit Händen und Füßen
Der Japaner trägt sein Smartphone immer bei sich. Er kann kein Wort Ukrainisch oder Russisch und auch nur wenig Englisch. Er verständigt sich über die Übersetzungsapp auf seinem Handy. Der Rentner reiste im Winter 2022 durch Osteuropa. Er verließ die Ukraine zwei Tage vor Kriegsausbruch, wie es die japanische Botschaft riet. Tsuchiko traf in Warschau Geflüchtete aus der Ukraine. Sie berichteten ihm von knapp werdenden Lebensmitteln in den umkämpften Gebieten. Tsuchiko kaufte Essen ein und fuhr zurück in die Ukraine. „Ich bin in einem Alter, in dem ich mir keine Sorgen mehr um mich selbst machen muss“, lässt er seine App übersetzen.
Der Japaner schlug sich im Mai nach Charkiw durch, als die Stadt aus dem Umland von russischen Panzern beschossen wurde. Tausende harrten wie Maulwürfe über Wochen in den U-Bahn-Röhren aus. Aber die Menschen hätten sich organisiert und einander geholfen. Tsuchiko schloss sich einer Gruppe von Freiwilligen an, die Hilfsgüter verteilte. Die Verständigung sei nur per Hand und Fuß möglich gewesen. Aber sie scheint geklappt zu haben. Die Gruppe managt April 2023 mit dem an Tsuchiko aus Japan gespendeten Geld Fumis Café.
Wäre der Helfer bereit, auch wieder in den Bauch der Stadt zu kriechen, und wie 2022 für unbestimmte Zeit in der Metro zu überleben, sollte sich die Lage wieder zu spitzen? „Ich kehre auf keinen Fall nach Japan zurück. Ich bleibe“, übersetzt die App seine Antwort. Er weiß, was ihn unter der Erde erwartet, und was ohne Sonnenlicht und frische Luft am Leben hält: Menschen, die zusammenhalten.