Von kaputten Scheiben, Hassnachrichten und einem alten Schulfreund mit Redebedarf
Der Politische Aschermittwoch funktioniert nicht mehr, weil dort nur das Poltern zu Hause ist. Deutschland aber ist längst Hetze gewohnt – selbst im Privaten. Das muss sich ändern
Falls am Ende ein Bruch stehen wird, dann werde ich den Knacks, mit dem er begann, exakt terminieren können. Aschermittwoch 2024, 14.14 Uhr. Mit dem Ort ist das schon komplizierter. Ich saß in Passau, hatte gerade Sahra Wagenknecht zugehört und schrieb auf, was sie gesagt hatte und wie das angekommen war beim Publikum. X., kenntlicher kann und will ich ihn nicht machen — weshalb, wird sich gleich erweisen, war knapp 9.000 Kilometer entfernt, kenntlicher kann und will ich auch den Ort nicht machen, an dem er lebt.
X. schickte, wie oft, Nachrichten über einen Messengerdienst. Meist erreichen sie mich — die Zeitverschiebung! — beim Arbeiten, also während ich mich mit Politik beschäftige, vorrangig der deutschen. X. schreibt gern in Positionen. Und in Portionen auch. Diesmal lautete die fünfte: „Gefahr für die Demokratie kommt nicht von rechts sondern von linksgrünen Faschisten!“Und Nummer sechs: „Personifiziert in der fetten dummen Sau Ricarda Lang! HASS PUR!“
Ich sah das, weil mein Telefon neben dem Laptop vor mir lag, als der Text aufploppte. Mir wurde für einen Moment schlecht, was ich schon kenne bei Nachrichten von X. Neu war der Impuls, ihm nicht nur jetzt nicht zu antworten. Sondern überhaupt nicht mehr. Nie wieder.
X. und ich kennen uns fast ein halbes Jahrhundert. Eine Schulfreundschaft, die gehalten hat. Ich müsste „hält“schreiben, Präsens – aber vielleicht stimmt das nicht mehr. Es gab Zeiten mit losem Kontakt, manchmal mussten wir uns ein paar Jahre nacherzählen – aber wir waren uns immer irgendwie nah. Obwohl unsere Berufe und Lebensstile und -räume nicht viel miteinander zu tun haben. Oder weil?
X. ist kein Idiot, auch nicht im üblichen Sinn des Worts. Naturwissenschaftler, promoviert. Erfolgreich im Job, auch materiell. Kommunalpolitisch engagiert. Seit er im Vorruhestand ist, lebt er mit seiner Frau in deren Heimat.
Und hetzt auf Distanz. Ich will das nicht schreiben. Aber es ist die Wahrheit.
Demokratie ist die einzige staatlich organisierte Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, und zwar Tag für Tag.
Verwahrlosung des bürgerlichen Anstandes
Als Ricarda Lang — Vorsitzende einer Regierungspartei, relativ jung — ein paar Stunden nach X.’ Hassnachricht am Aschermittwochabend bei der Abreise von einer Veranstaltung bedrängt und beschimpft wird, muss ich mich nicht fragen, was das für Leute sind. Aber was, um Himmels Willen und verdammt noch mal, ist mit ihnen los? Was ist los mit X.?
Die üblichen Erklärungsmuster — Angst vor Abstieg oder schon mittendrin, Missachtungs-Frust in den jungen Ländern, alternativ mindestens tendenzielle Neigung zu autoritären, chauvinistischen, rassistischen, faschistischen Positionen — docken bei X. nicht an. Die Demonstranten von Schorndorf kenne ich nicht. Ja, in Berlin vor dem Brandenburger Tor habe ich die Wut von Bauern gespürt. Aber, bitte: Dies ist Baden-Württemberg. Das Ländle. Worldwide Version: The Länd.
Zwölf Tage vor Aschermittwoch ist Oskar Negt gestorben, philosophischer Soziologe, soziologischer Philosoph, Erklärer, Verteidiger, ja, auch Prediger der Demokratie. In der „Süddeutschen“ruft Willi Winkler Negt dessen Satz aus einem Interview von 2017 nach: „Demokratie ist die einzige staatlich organisierte Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, und zwar Tag für Tag.“
Als dieses Gespräch erscheint, ist Donald Trump kein halbes Jahr Präsident der USA, und Negt antwortet auf die Frage, ob mit Trump und seinem Kollegen Recep Tayyip Erdogan, der die Türkei seit 2014 regiert, das Zeitalter der Aufklärung an sein Ende gekommen sei: „Das Ausmaß der Verwahrlosung und der Missachtung des bürgerlichen Anstandes in dieser Dimension habe ich tatsächlich nicht für möglich gehalten. Allerdings verweist die politische Situation auf eine Zerrüttung von Normen auch im Privatleben. Es scheint, als würden alle Tabus brechen, und mir ist noch unklar, was für Folgen das für den Zusammenhalt des Gemeinwesens hat.“
Sind sie jetzt da? In Schorndorf und in Biberach, dem Städtle aus dem Lied von der Schwäb’sche Eisebahne, wo sie Cem Özdemir, dem grünen Landwirtschaftsminister, der ihr Landsmann ist, am
Aschermittwoch einen Stein durchs Fenster eines Begleitfahrzeugs trümmern? Vor neun Jahren in Heidenau, in Sachsen, wurde auch schon gebrüllt – aber Kanzlerin Angela Merkel hörte das „Volksverräterin!“über sichere Distanz. Im Jahr 2024 geht es körperlich zur Sache. In die Enge treiben ist mehr als nur ein sprachliches Bild.
Warum Ungleichbehandlung?
Das Land, in dem X. derzeit lebt, ist offiziell eine konstitutionelle Monarchie; tatsächlich wird es autokratisch regiert, die Korruption blüht. In Portion vier vom Aschermittwoch hat er Deutschland einen „Drecksstaat“genannt. Wenn ich glauben könnte, dass er betrunken war, wäre ich froh. Aber bei der Frequenz seiner Ausfälle müsste er Alkoholiker sein.
Nie habe ich mich auf seinen Ton eingelassen. Stattdessen um Mäßigung gebeten. Es hat immer gewirkt. Bis zum nächsten Insult. Was passiert, wenn ich X. nicht antworte?
Oskar Negts sehr viel jüngerer Soziologen-Kollege Steffen Mau, Experte für die Bruchstellen der Gesellschaft, hat vergangenes Jahr mit zwei Kollegen ein Buch geschrieben über „Konsens und Konflikt“in Deutschland. Klingt sehr viel akademischer als es sich liest. Mau ist sicher, dass die deutsche Gesellschaft – anders als viele behaupten – nicht gespalten ist, sondern getriggert. Migration? Ping! Genderstern? PING! Heizungsgesetz? PIIIIING!
Warum triggert Ricarda Lang? Warum die Grünen ganz allgemein mehr als die FDP? Warum kommt Christian Lindner mit seinen Provokationen beim Publikum durch – und Lang mit ihren Patzern nicht?
Bei Wahlen – also im Ernstfall – ist es ja genau andersherum.
„Es ist ein falsches Verständnis von Freiheit“, sagt Negt 2017, „wenn an die niedrigsten Instinkte appelliert wird.“Aber es bringt Zulauf, Stimmen – und vielleicht den Chefsessel in einer Staatskanzlei. Die AfD versteht sich längst als Trigger-Fabrik, Sahra Wagenknecht ist mit ihrer Bündnis-Partei gerade dabei, eine zu werden.
Nochmal Negt. 2017 hofft er auf „Widerstand und Erneuerungskräfte“gegen die Verächter und Feinde der Demokratie. Wenn man die Demonstrationen nach Offenbarwerden des Treffens von Potsdam, in dem Rechtsextreme die Austreibung Missliebiger durchgenommen haben, dafür halten will, hat Deutschland fast sieben Jahre gebraucht.
Nachricht an X.: Wir! Müssen! Reden! Jetzt!
Die Autorin ist langjährige Deutschland-Korrespondentin des „Luxemburger Wort“mit Sitz in Berlin.