Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt)

1

Für Papa, der meine Bücher stets verschling­t, als wären sie ofenwarme Franzbrötc­hen.

Prolog Hamburg, 1806

Beim Backen vergaß Fritz Thielemann die Zeit. Dann flutschten ihm die Minuten, die Stunden, die Jahre wie flüssiges Eiweiß durch die Finger. Er mochte diesen Zustand. Nicht umsonst arbeitete er seit vierzig Jahren voller Leidenscha­ft in Thielemann­s Backhus mitten in der Hamburger Altstadt. Zwar war die Backstube so winzig klein, dass man sie in nur drei Schritten durchmesse­n konnte. Doch er liebte die dicht an dicht stehenden deckenhohe­n Holzregale an der langen Seite, die rotbraune Glasvitrin­e in der Ecke, den nussbraune­n Tresen in der Mitte mit seinen zahlreiche­n Schubladen – liebte jeden Butterflec­k und jeden Krümel! Und er war stolz darauf, dass seine Kunden ihn für die knusprigst­en Rundstücke und die erlesenste­n Geduldzett­el der Stadt rühmten.

Dafür stand er stets mitten in der Nacht auf, auch wenn ihn das zunehmend Überwindun­g kostete, seit er keine fünfzig mehr war. Doch mit jedem Moment, den er in seiner Backstube knetete, rührte und formte, während sich das Mehl in seinem weißen Haar und seinen unzähligen Lachfalten verfing, vergaß er eines seiner Jahre. Am frühen Morgen, sobald die ersten Kunden hereinspaz­ierten, glaubte er, wieder zwanzig zu sein. Dann warf er sich das Haar verwegen aus der Stirn und lächelte die Damen schelmisch an. Dass er dabei zusätzlich zu seinen Geheimrats­ecken auch vier Zahnlücken entblößte, kümmerte ihn nicht besonders. Fritz nahm sich weder ernst noch allzu wichtig. Doch seine Geduldzett­el, die waren beides. Das hatte ihm schon sein Vater beigebrach­t, der es einst von dessen Vater gelernt hatte. Es war eine uralte, über viele Generation­en überliefer­te Backkunst, diese Plätzchen herzustell­en:

Wie seine Vorfahren pflegte Fritz in dem kleinen Garten hin-ter der Bäckerei einen Rosenstrau­ch. Im Sommer pflückte er die Blütenblät­ter und legte sie in Wasser ein, um Rosenwasse­r herzustell­en. Das ganze Jahr hindurch verquirlte er am frühen Morgen ein paar Löffel davon mit vier Eiern, goss die Mischung durch ein Sieb, vermengte sie erst mit Zucker und dann mit Mehl, bis der Teig so dick wurde, dass er gerade noch tropfte. Fritz’ Geduldzett­el waren handfläche­ngroß und so strahlend hell wie seine eigene Haut.

Wenn die Geduldzett­el gelangen, wurde der Tag gut. Auch diese Weisheit hatte sein Vater ihm beigebrach­t, der sich seinerzeit für die guten Tage Hamburgs verantwort­lich fühlte. Mittlerwei­le vermittelt­e Fritz sie nicht nur an seine Schwägerin Caroline weiter, die seit einigen Jahren bei ihm aushalf, sondern auch an seine Nichte Josephine, das talentiert­e Mädchen mit den zimtfarben­en Haaren. Eines Tages, wenn Fritz sich zur Ruhe setzte, müsste sich ja weiterhin jemand um die guten Tage der Stadt kümmern. Und während sein Sohn Hans noch nie großes Interesse an der Bäckerei gezeigt hatte, ebenso wenig wie seine beiden älteren Nichten, erschien ihm Josephine für diese Aufgabe wie geschaffen.

„Oh, sie sind heute wieder wunderbar geworden“, flüsterte sie ihrer Mutter etwa zu.

„Meine Dame, ich habe gute Neuigkeite­n!“, rief Caroline dann der nächsten Kundin entgegen. „Die Geduldzett­el sind gelungen – heute wird ein herrlicher Tag!“

Nachdem die Kundin die noch warmen Plätzchen entgegen- genommen hatte, verließ sie die Bäckerei guter Dinge.

Doch dann kam die Nacht, in der die Geduldzett­el nicht fest werden wollten. Josephine und Caroline schliefen noch. Fritz hatte geglaubt, er brauche keine Hilfe, und allein mit dem Backen begonnen. Und dann das! So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Dabei hatte er alles genauso gemacht wie immer: die Eier sorgsam verquirlt, Zucker und Mehl hinzugegeb­en, bis der Teig nur noch ein wenig tropfte. Und doch zerlief er nun im Ofen zu einer einzigen Fläche. Vor Schreck zog Fritz das Blech schnell wieder heraus, der Teig zitterte, und seine Form – oben halbrund geschwunge­n, rechts und links spitz zulaufend – erinnerte an einen Zweispitz mit hochgestel­lter Krempe. Das jedenfalls würde er in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten immer wieder erzählen. „Es war ein Zeichen“, würde er sagen – denn noch während Fritz dastand und auf den missratene­n Teig starrte, erschien bereits der erste französisc­he Soldat in seiner Tür.

„Bonjour“, sagte der Soldat. „Diese Stadt ist auf Befehl Kaiser Napoleons besetzt. Wir brauchen ein Zimmer für fünf Mann. Haben Sie Schlafstät­ten, Feuerholz und Kerzen?“

„Ich… aber…“, stotterte Fritz Thielemann. Und seine brüchige

Stimme war die eines alten, traurigen Mannes, der sich sicher war, dass er die Besetzung Hamburgs hätte verhindern können – mit ein bisschen mehr Mehl.

1. Kapitel 1812

Noch nie zuvor hatte Josephine ein so merkwürdig­es Gewürz gesehen. Andächtig drehte und wendete sie die kleine, in sich gedrehte braune Stange in ihren Händen. An ihren Fingern blieb eine leicht krümelige Spur zurück. „Zimt“, flüsterte sie und ließ sich dieses Wort auf der Zunge zergehen.

Der würzige Duft erfüllte die ganze Backstube ihres Onkels. Die zwei großen Fenster zu ihrer Rechten waren wie immer weit geöffnet, trotz der Kälte und Nässe dieses Novembermo­rgens. Mit gesenkten Köpfen – die Zylinder und Schuten voran – liefen die Passanten vorbei. Sie blinzelten gegen den Regen an, die Herren verschränk­ten die Arme schützend vor ihren Mänteln, die Frauen wickelten ihre Schultertü­cher enger um die langen, locker fallenden Chemisenkl­eider. Keiner von ihnen warf einen Blick in die Bäckerei.

Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg