Was ist los bei Boeing?
Der amerikanische Flugzeugbauer fliegt derzeit von Panne zu Panne. Die Luxemburger Airlines, die Kunden des Unternehmens sind, beunruhigt das nicht
Es ist der Alptraum jedes Flugreisenden. Während des Fluges reißt in knapp 5.000 Metern ein Bauteil aus der Maschine und die Passagiere starren panisch in ein Loch in der Kabinenwand, während der Unterdruck lose Gegenstände aus dem Innenraum saugt. So geschehen an Bord einer Boeing 737 Max 9 von Alaska Airlines am 5. Januar dieses Jahres. Die Ursache für den Vorfall war offenbar, dass vier Bolzen fehlten, die den herausgefallenen „Door Plug“eigentlich fixieren sollten. Im Anschluss an die Panne sprach die amerikanische Flugaufsichtsbehörde ein zeitweiliges Flugverbot für weltweit 171 Maschinen vom Typ Max 9 aus.
Das war nicht der erste und nicht der letzte Vorfall in letzter Zeit im Zusammenhang mit einer Maschine, die von Boeing gebaut wurde. Alleine in den ersten Monaten dieses Jahres gab es weitere Meldungen über Qualitätsprobleme bei dem amerikanischen Flugzeugbauer. Alaska Airlines stellte bei internen Inspektionen von Max 9-Flugzeugen nach der Beinah-Katastrophe fest, dass Schrauben bei mehreren Maschinen locker waren.
Anfang Februar teilte der Konzern mit, dass Löcher in Flugzeugrümpfen wohl nicht den Anforderungen entsprechend gebohrt wurden, und 50 noch nicht ausgelieferte Maschinen nachbearbeitet werden müssen. Der Tiefpunkt der Krise bei dem Flugzeugbauer waren die Abstürze zweier Passagiermaschinen vom Typ 737 MAX 8 2018 und 2019 gewesen, bei denen insgesamt 346 Passagiere und Crew-Mitglieder ums Leben kamen. Für Maschinen dieses Typs bestand nach den Vorfällen ein weltweites Flugverbot von fast zwei Jahren.
Luxemburger Airlines stehen zu Boeing
Angesichts der fortgesetzten Qualitätsprobleme bei Boeing verlieren die Airlines die Geduld. Der Chef von Emirates Airline, einer der größten Kunden des Unternehmens, sagte kürzlich, dass es einen „fortschreitenden Rückgang“der Boeing-Standards gebe, und dass Boeing sich im „Last Chance Saloon“befinde. Der CEO von United Airlines wetterte im Interview, dass die jüngsten Flugverbote für die Max 9 der Tropfen gewesen seien, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe und deutete an, die Bestellung für die nächste Max-Reihe zurückzufahren.
Von Luxemburger Airlines ist bisher nichts Derartiges zu hören. Laut „Direction de l’Aviation Civile“sind derzeit 42 Flugzeuge von Boeing in Luxemburg registriert: 30 747 bei Cargolux (davon vier bei Cargolux Italia), zehn 737 bei Luxair und zwei 737 bei Global Jet. Die aktuellen Qualitätsprobleme beträfen nicht ihre Maschinen, versichern sowohl Luxair als auch Cargolux auf Anfrage. Auch zusätzliche Maßnahmen hält man nicht für notwendig, schreibt Luxair in einer Stellungnahme, die Kontrollen seien „bereits auf dem allerhöchsten Niveau“. Ebenso wenig sieht die Luxemburger Flugaufsicht die Notwendigkeit für zusätzliche Kontrollen. „Gegeben dem Umstand, dass keine der in Luxemburg immatrikulierten Flugzeuge von diesen Problemen betroffen sind, werden zu diesem Zeitpunkt keine zusätzlichen Maßnahmen ergriffen“, schreibt die Behörde auf Anfrage.
Auf die Einkaufspolitik der Luxemburger Airlines haben die Pannen des amerikanischen Herstellers keinen Einfluss, bestätigen beide Gesellschaften. Luxair wird bis 2026 zwei weitere 737 Max 8 geliefert bekommen. Cargolux bestellte 2022 zehn 777-8 Frachtflugzeuge. Das erste davon soll im vierten Quartal 2027 ausgeliefert werden. Sobald die Fertigung beginne, werde man eigene Ingenieure zu Boeing schicken, um die Produktion der Flugzeuge zu überwachen, aber das sei in der Branche gängige Praxis, schreibt das Unternehmen.
Buchhalter statt Ingenieure
Aber wie konnte es dazu kommen, dass das Unternehmen, das mehr als einmal die globale Luftfahrt revolutionierte, so fehleranfällig wurde? Für viele Branchenkenner beginnen die Probleme bei Boeing bereits in den 1990er Jahren mit der Übernahme des Erzrivalen McDonnell Douglas. Waren bis dato die Ingenieure die Superstars des Betriebs gewesen, rückten nun die Buchhalter in den Mittelpunkt. In schneller Folge wechselnde Unternehmenslenker trimmten den Konzern auf Gewinnmaximierung, zulasten des alten Fokus auf technische Perfektion und der Konzentration auf kleinste Details. „Wenn Leute sagen, ich hätte die Kultur von Boeing verändert, dann war (genau) das die Absicht, damit es mehr wie ein Unternehmen und nicht wie ein großes Ingenieurbüro geführt wird“, sagte etwa Harry Stonecipher, der Boeing zu Anfang des Jahrhunderts leitete.
„Damals gab es im Unternehmen einen Bruch, der sich bis heute durchzieht. Wenn man sich die letzten zwanzig Jahre anschaut, gab es nicht nur die Probleme mit der 737; auch die 787 stand lange am Boden. Das Nachfolgemodell der Boeing 777 ist um Jahre verspätet“, sagt Andreas Bardenhagen, der den Lehrstuhl für „Luftfahrzeugbau und Leichtbau“an der TU Berlin innehat. „Das findet sich in fast allen Passagier- und Transportflugzeugen bei Boeing. Das ist im Moment ein Unternehmen, was nicht das zeigt, was man eigentlich von ihm erwartet.“
Gefährliche Kompromisse
Auch die Entscheidung aus dem Jahr 2011, die in die Jahre gekommene 737 nicht durch ein neu entwickeltes Flugzeug zu ersetzen, sondern mit einem Upgrade zum Typ 737 Max zu modernisieren, war vor allem von Rentabilitätsüberlegungen getrieben. „Um ein komplett neues Flugzeug zu entwickeln, muss man mit Kosten von um die zwölf Milliarden US-Dollar rechnen. Um das wieder einzuspielen, muss ich Tausende von Flugzeugen verkaufen“, erklärt der Professor gegenüber dem „Luxemburger Wort“. „Neue Flugzeuge erfordern fünf bis zehn Jahre Entwicklungszeit von der Idee bis zum Erstflug, werden dann in der Regel über 20 Jahre lang produziert und flie
gen dann nochmal 25 bis 30 Jahre. Man muss sich also sehr genau überlegen, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist.“
Bei Boeing habe man sich im Falle der Boeing 737 entschieden, noch eine Generation zu warten. Um den Flieger dennoch konkurrenzfähig zu modernisieren, mussten die Konstrukteure einige Kompromisse eingehen. „Dabei ist man aber vielleicht in einigen Punkten über das hinausgegangen, was ein guter Ingenieur tun sollte“, sagt Bardenhagen.
Nicht nur für Boeing bedeutete die Entscheidung eine kurzfristige Kostenersparnis, auch die Airlines konnten mit Unterstützung des Herstellers darauf verzichten, ihre Piloten aufwendig für ein neues System zu trainieren. Zusammen mit weiteren Faktoren führte das schließlich zu den katastrophalen Abstürzen der Jahre 2018 und 2019.
Fehlende Brandmauer
In vielen der erwähnten Fälle versagten offenbar die Qualitätskontrollen des Herstellers. „Solange Menschen involviert sind, passieren Fehler. Es muss allerdings sichergestellt sein, dass es eine Brandmauer gibt und solche Fehler nicht bei der Airline ankommen, und man immer ein sicheres Flugzeug ausliefert. Diese Brandmauer gab es in den bekannt gewordenen Fällen, zum Beispiel den fehlenden Bolzen bei dem Door Plug, bei Boeing offenbar nicht“, sagt Bardenhagen.
Die jüngsten Qualitätsprobleme dürften dabei auch eine Spätfolge der Entlassungen in der Pandemie sein. Boeing hatte im April 2020 angekündigt, etwa zehn Prozent seiner weltweit rund 160.000 Stellen zu streichen. „Im Unterschied zu Europa gibt es in den USA nicht die Möglichkeit zur Kurzarbeit. Die Leute wurden also entlassen und später wurden andere wieder eingestellt, als es wieder hochlief. Die für den Flugzeugbau notwendige Qualitätskultur muss sich dann aber immer wieder neu entwickeln. Das braucht Zeit“, sagt Bardenhagen. Eine kurzfristige Lösung für den Konzern sieht er nicht. „Es dauert normalerweise genauso lange, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, wie ihn da reinzubringen. Das ist ein langwieriger Prozess“, sagt er.
Der Bedarf an neuen Maschinen wächst dabei beständig; der Datenanbieter Cirium prognostizierte vor kurzem, dass in den nächsten 20 Jahren rund 46.000 neue Passagier- und Frachtflugzeuge ausgeliefert werden. Die einzige ernstzunehmende Alternative zu Boeing ist Airbus, das seinerseits volle Auftragsbücher und begrenzte Zusatzkapazitäten hat. Airlines, die unzufrieden mit der Qualität bei Boeing sind, können daher nicht so ohne weiteres zum europäischen Konkurrenten ausweichen.
Trotz der Vorfälle betont Bardenhagen aber, dass Fliegen nach wie vor sehr sicher sei, egal ob mit Boeing oder einem anderen Hersteller. „Da ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Sie im Lotto gewinnen, als dass Sie mit einer Maschine abstürzen“, sagt der Luftfahrtingenieur.
Das ist im Moment ein Unternehmen, was nicht das zeigt, was man von ihm erwartet. Andreas Bardenhagen, TU Berlin