Die andere Sicht auf die Brachflächen der Städte
Mit dem Buch „Wild Site“beleuchtet der Verlag Point Nemo Publishing Räume, denen das Ende bevorsteht; und die doch besondere Gegenwarten bergen können
Es ist ein Kleinod, dieses Buch. Schon der Deckel von „Wild Site“zeigt mit seiner besonderen Haptik und Gestaltung das Engagement, das in jeder Nuance steckt. Anna Valentiny, Partnerin bei Valentiny hvp Architects und Gründerin des Verlags Point Nemo Publishing, beweist damit auch einen gewissen Mut. Sie veröffentlicht ein Band, der zwar attraktiv wirkt, aber zunächst rein inhaltlich erst einmal stutzen lässt. Um was geht es da? Brachflächen? Was soll daran besonders sein?
Die drei Autorinnen, Herausgeberinnen und Architektinnen des Kollektivs „das BAU“– Eva Herunter, Katharina Hummer und Julia Obleitner – stecken hinter diesem gemeinsamen Coup. Ausgangspunkt des Inhalts ist die Gemengelage der Stadt Wien – doch die Befunde daraus wollen mehr sein; und sollen mehr sein.
Der Klappentext des deutsch-englischsprachigen Bändchens von 100 Seiten verrät ganz offiziell: „Wild Site ist die Entdeckung der flüchtigen Nebenprodukte einer sich ständig verändernden Stadt: Baulücken, Brachflächen, Zwischen- und Resträume, „wilde Orte“. Fünf Gespräche mit Forschen:innen aus den Bereichen Biologie, Geologie, Klimatologie, Botanik. Landschaftsarchitektur, Urbanismus und Architektur werden begleitet von einer fotografischen Arbeit von Zara Pfeifer.“
„Entdeckung“heißt es da ganz richtig. Auch wenn das Buch einerseits eine Metaperspektive einnimmt, sind die Erkenntnisse aus der Praxis durchaus gut verständlich. Das dialogische Frage-AntwortKonzept macht den Inhalt zugänglicher.
Ein Beispiel daraus: eine Frage an den Biologen Florian Etl – und seine spannende Antwort: „Sind Stadtböden und insbesondere Brachflächen gute Lebensräume für Insekten?“– „Ja, auf jeden Fall. In der Stadt wurden bisher ja kaum Insektizide oder Herbizide verwendet, welche die Böden im Umland in der Vergangenheit bis heute großflächig vergiftet haben. In Städten herrscht außerdem ein spezielles Mikroklima. Sie sind oft wärmer und trockener als das Umland und es weht weniger Wind. Bienen sind beispielsweise wärmeund trockenheitsliebende Tiere – die meisten Bienen gibt es in Europa im Mittelmeerraum. Die Stadt Wien ist ein Paradies für Wildbienen: In Österreich leben über 700 Arten und mehr als die Hälfte davon sind in Wien anzufinden. Der Großteil dieser Wildbienenarten nistet im Boden. Sobald also im Stadtraum durch Entsiegelung offener Boden entsteht, zieht das Tiere wie Wildbienen an.“Und das ist nur ein Teil seiner Erkenntnisse, die er mit den Brachflächen im urbanen Raum in Verbindung bringt.
Paradiesische Zustände zu beschwören, ist das aber längst nicht. Der Geologe Michael Wagreich mahnt: „Die Baubranche wird es nicht gerne hören, aber wir müssen uns langfristig über Materialkreisläufe und Recycling von Baustoffen Gedanken machen.“Ebenso gibt es dieses Unbestimmte auf Zeit. Oder wie es im Vorwort heißt: Es „verbergen sich in unbeaufsichtigten und oft übersehenen Freiräumen wie Stadtbrachen neue Formen des Zu
sammenlebens von Menschen, Tieren, Bakterien und Pflanzen.“
Luxemburg ist anders, doch die Fragen könnten neue Impulse setzen
Wo aber steckt da ein Mehrwert für Luxemburg? In der Fragestellung an und im Fokus auf diese Flächen. Es gibt längst Beispiele im Land, aber auch anders gelagerte Fälle, die man dank der Fragen des Buchs durchaus bespiegeln könnte. Anna Valentiny sagt dazu: „Wien ist eine historisch gewachsene Stadt, deren Städteplanung sich doch sehr vom Großherzogtum unterscheidet. Insofern sollte nicht der Versuch unternommen werden die angedeuteten Schlussfolgerungen aus ,Wild Site’ 1 zu 1 mit der Lu
xemburgischen Hauptstadt, deren Peripherie oder gar den Dörfern Luxemburgs übertragen zu wollen. In Luxemburg denkt man wahrscheinlich an die Brachen der Stahlindustrie im Süden. Oder an die Weiher in Remerschen, wo ab der Mitte des letzten Jahrhunderts Sand geschürft wurde und wo sich die brachliegende Mondlandschaft mit Laufe der Zeit zu einem Biotop für die Pflanzen- und Tierwelt entwickelte. Zugvögel machten Remerschen zum Rastplatz auf ihrer Reise und der Ort wurde zum Naturschutzgebiet erklärt, weil es ein öffentliches Interesse in der Erhaltung dieses Lebensraumes entstand.“
Das sei ein eher ungewöhnlicher Fall. „Es ist aber wichtig zu verstehen, dass das nicht der Regelfall ist, besonders in den Regionen, in denen der Quadratmeter-Preis noch höher ist als an der Mosel und wo ein enormer Druck auf die Bebauung dieser Flächen liegt. Brachflächen, egal in welcher Hauptstadt Europas, teilen sich ihren eminenten Charakter. Sie sind eben temporär und vergänglich, da sie der Logik des Marktes zwingend unterliegen. Der Erhalt solcher Orte könnte nur auf öffentliche Initiative funktionieren, sodass die Privaten für den Verlust ihres Baulandes entschädigt würden. Aber das bedeutet auch, dass
die Brachflächen eben wie im Falle eines Naturschutzgebietes nur sehr eingeschränkt vom Menschen gestaltet und genutzt werden könnten“, sagt die Verlegerin Valentiny.
Dass Zara Pfeifer ihre Bilder beisteuert, lässt die Kontexte zusätzlich schillern. Wie wirken diese Bilder? Sind es dokumentarische Abbildungen scheinbarer urbaner Schandflecke und Brachen auf Zeit? Nein, eben diese Eroberungsräume für Ideen machen sie deutlich. Und übrigens im Sitz der Valentiny Stiftung in Remerschen, wo das Buch vorgestellt wurde, sind die Arbeiten Pfeifers in großen, eindrücklichen Abzugsformaten noch bis zum 23. Februar zu sehen – zusammen mit weiteren Einblicken in die Arbeit des Verlags.
Wie soll darüber hinaus es mit dem Verlag, dessen Steckenpferd die Zeitschrift Adato und Publikationen um die Architektur allgemein ist, weitergehen? „Wir freuen uns darauf, auch zukünftig Projekte zu entwickeln, ähnlich wie wir das auch mit ,Traces’ für die Kulturfabrik in Esch gemacht haben; eine Publikation, für die wir vor einigen Wochen in Frankfurt am Main mit dem German Design Award ausgezeichnet wurden“, sagt Anna Valentiny. „Darüber hinaus, werden wir unser Verlagsprogramm ein wenig auffächern. Das heißt, wir werden weiter Bücher mit einem Schwerpunkt auf Architektur und Urbanismus machen. Darüber hinaus aber werden wir uns dieses Jahr noch weiter Richtung Belletristik entwickeln und Themen wie Menschen und Gesellschaft einführen.“
Sobald im Stadtraum durch Entsiegelung offener Boden entsteht, zieht das Tiere wie Wildbienen an. Florian Etl, Biologe