Der Duft von Zimt
2
Ob sie vielleicht kurz nach hinten in die Backstube gehen könnte?, überlegte Josephine gerade, doch in diesem Moment schob sich der blonde Schopf der kleinen Mathilde durch das Fenster.
„Guten Morgen, Josephine! Habt ihr offen?“Es fehlte nur noch, dass sie ungeduldig an den Fensterläden rüttelte. Sie konnte nicht älter als zehn sein, benahm sich dafür aber reichlich vorlaut.
Josephine seufzte. „Wonach sieht’s denn aus, mh?“
Schnell versteckte sie die Zimtstange in einer Schublade unter dem Tresen und sah dem Mädchen entgegen, das nun durch die Tür hereinkam und wie immer seinen älteren Bruder Hermann hinter sich herzog. Beide trugen völlig zerrissene Kleider, waren blass und dreckig. Hermann duckte sich unter dem Türrahmen und wich Josephines Blick aus, als sie ihn grüßte. In den letzten Monaten war er so schnell in die Höhe geschossen, dass sie stets ein wenig erschrak, wenn sie ihn sah. Auch er selbst schien sich mit seiner Größe nicht wohlzufühlen, jedenfalls lief er stark gebückt durch die Stadt.
„Ich habe mich schon gefragt, wo ihr zwei Rotzlöffel heute bleibt.“Josephine zwinkerte ihnen verschmitzt zu. Obwohl Mathilde furchtbar ungezogen war und Hermann zu schüchtern, um viel zu sprechen, und obwohl sie nur selten bezahlen konnten, hatte sie die beiden ins Herz geschlossen. „Wie geht es eurer Mutter? Kann sie mittlerweile wieder aufstehen?“
„Ach, wo denkst du hin?“Mathilde rieb sich über ihren auffällig breiten Mund. „Hast du Geduldzettel?“
Josephine schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“
„War ja klar“, grummelte das Mädchen. „Hätte ich mir schon denken können, als mein liebes Brüderchen heute unsere letzten Teller zertrümmert hat. Das wird kein guter Tag, habe ich mir gesagt.“
Sie sprach gern über Hermann, als sei er gar nicht da. Josephine fragte sich, ob es in gewisser Weise nicht auch stimmte. Sie legte den Kopf schief. „Hast du mir nicht erzählt, dass du die anderen letzte Woche selbst zerschlagen hast, als du wieder einmal wütend warst?“
Mathilde schnaufte. „Was kümmert es mich, was ich letzte Woche getan hab?“Doch sie sah ein wenig betreten zu Boden.
„Sind noch Rundstücke von gestern da? Oder irgendwelche anderen Reste?“, fragte sie dann überraschend leise.
In diesen Zeiten, in denen selbst die grundlegendsten Zutaten knapp waren, blieb nie etwas vom Vortag übrig, das Josephine hätte verschenken können. Schließlich war sie kaum in der Lage, genug für ihre zahlenden Kunden zu backen. Und doch brachte sie es einfach nicht übers Herz, die beiden wegzuschicken. Die Vorstellung, dass sie hungrig durch die Stadt irren mussten, verursachte ein heftiges Ziehen in ihrem Magen. Also drehte sie sich um und griff nach zwei frischen Brötchen. Im gleichen Moment klingelte das Glöckchen über der Tür.
„Das gibt’s doch nicht!“, polterte der Neuankömmling los.
„Was treibt ihr zwei Lümmel euch hier wieder herum? Ich habe euch schon zehnmal gesagt, dass Bettler in dieser Bäckerei nichts verloren haben! Wegen Schmarotzern wie euch muss der gute Fritz bald schließen! Da werdet ihr euch dann umgucken, wenn ihr ihm das Geschäft kaputt gemacht habt! Wie oft soll ich es euch denn noch sa…?“„Du brauchst gar nichts zu sagen, mein lieber Fiete“, unter- brach Josephine ihn und stemmte die Hände in die Hüften.
„Oder haben wir jetzt einen hauseigenen Pförtner, von dem ich noch gar nichts wusste?“
Sie konnte es schlecht ertragen, wenn jemand davon sprach, ihr Onkel könne die Bäckerei aufgeben müssen. Leider geschah das in letzter Zeit immer öfter. Sogar Fritz selbst beklagte, dass es in diesen Tagen kaum noch möglich wäre, ein Geschäft zu führen. Manchmal sprach er sogar davon, rüber nach Altona zu ziehen und neu anzufangen. Doch Josephine wollte davon nichts hören. Nicht von Fritz und schon gar nicht von Fiete. Nein, sie würden durchhalten, komme, was wolle!
Kleinlaut sah Fiete sie an. „Ich wollte doch nur …“Obwohl er die Stimme gesenkt hatte, dröhnte sie Josephine noch immer in den Ohren. „Ihr habt es schon so schwer, da dachte ich …“
„Ich weiß doch, Fiete.“Sie lächelte versöhnlich und strich sich ihre Haare aus dem Gesicht. Unter Fietes noch immer leicht missbilligendem Blick drückte sie Mathilde und Hermann die beiden Rundstücke in die Hände. „Bitte schön, ihr zwei. Lasst sie euch schmecken.“
Mathilde nickte ihr dankend zu und zog Hermann schnell aus dem Geschäft hinaus.
Fiete sah ihnen kopfschüttelnd hinterher. „Dass die beiden hier so oft aufkreuzen und euch eure knappen Waren abluchsen … In diesen Zeiten! Du meinst es ja nur gut, aber wegen dieser Bälger werdet ihr noch …“
„Lass mich raten“, unterbrach Josephine ihn, bevor er schon wieder in Schwarzmalerei verfallen konnte. „Du klingst, als könntest du möglicherweise selbst ein Rundstück vertragen?“Sie zwinkerte.
Jetzt schmunzelte Fiete. „Das kann ich doch immer!“Er klopfte sich auf den mittlerweile kaum noch vorhandenen Bauch. Dann rief er gut gelaunt: „Vier Stück, bitte!“
Während Josephine ihm die letzten Brötchen einpackte, erklang eine weinerliche Stimme in ihrem Rücken.
„O nein, o nein, o nein.“Josephine sah über ihre Schulter und erkannte die wässrigen, tieftraurigen Augen von Jette, die durch das offene Fenster hereinschaute.„O guter Gott, alle Rundstücke fort! Bin ich schon wieder zu spät? O Herr Jesus Christus, womit habe ich das verdient? Wenn das so weitergeht, müsst ihr bald schließen. Gott helfe euch durchzuhalten! Wenn es Thielemanns Backhus nicht mehr gibt, dann geht auch bald die ganze Stadt vor die Hunde, das sage ich euch!“Josephine hatte die alte Frau noch nie mit trockenen Augen gesehen.