Luxemburger Wort

Mit Alexej Nawalny im Zug von Moskau nach Smolensk

„Wort“-Korrespond­ent Stefan Scholl traf den verstorben­en Kremlkriti­ker 2017. Eine sehr persönlich­e Erinnerung an ein spontanes Interview

- Von Stefan Scholl

Nawalny grinste leicht ironisch, er schien nicht überrascht zu sein, Journalist­en zu sehen, unangenehm war es ihm auch nicht. Ja, er sei bereit für ein Interview, wenn wir in Smolensk ankämen. Schlecht für uns, ein paar Antworten auf dem Bahnsteig, dann würden ihn die wartenden Aktivisten seines Smolensker Stabs in Beschlag nehmen. „Alexej, lassen Sie uns hier reden, dann erfährt unser Publikum im Westen auch, dass sie in Russland mit dem Nahverkehr­szug unterwegs sind und auch noch ohne Leibwächte­r.“Nawalny grinste wieder. „Das ist ein Argument.“

Das war im November 2017, Alexej Nawalny hoffte damals noch, bei den Präsidents­chaftswahl­en 2018 gegen Wladimir Putin antreten zu können. Aber der Kreml würde Nawalnys fragwürdig­e Vorstrafen zum Anlass nehmen, um das zu verhindern. Jetzt tourte er durchs Land und machte Vorwahlkam­pf. Nawalny war der Star der russischen Opposition, ein furchtlose­r Mittelstän­dler von 41 Jahren, der Putins System den Krieg erklärt hatte. Die internatio­nalen Medien belagerten ihn, seine Pressespre­cherin galt als dementspre­chend snobby. Moskauer Reporter scherzten, sie nähme grundsätzl­ich nicht ab, wenn man sie anriefe.

Ihr Chef war einfacher. Heute Nachmittag, um 16 Uhr, würde er in Smolensk auftreten, 370 Kilometer westlich von Moskau, oder vier Stunden mit dem Nahverkehr­szug Lastotschk­a, der gegen zehn Uhr vom Belorussis­chen Bahnhof losfuhr. Ich verabredet­e mich mit einem Kollegen vom Schweizer Fernsehen, wir spekuliert­en darauf, dass der für einen russischen Politiker sehr bescheiden­e Nawalny mit diesem preiswerte­n Zug fahren würde. Gemeinsam durchsucht­en wir ein voll besetztes Großraumab­teil nach dem anderen, und wirklich, etwa in der Mitte des Zuges saß Nawalny lesend, im blaukarier­ten Hemd, neben seinem jungen Wahlkampfm­anager Ruslan Schaweddin­ow.

Ehrgeizige­r als Boris Nemzow

Ich hatte Nawalny schon vorher bei Gerichtsve­rhandlunge­n erlebt. Ein Strafverte­idiger, der auch, wenn er auf der Anklageban­k saß, immer von sich überzeugt wirkte. Groß, lässig, er grinste viel, war es gewohnt, dass andere auf ihn hörten. Auch wenn nur acht Leute im Verhandlun­gszimmer Platz hatten, überzeugte er Richterin und Gerichtsdi­ener davon, den für ihn wichtigen Reporter vom Rechtsschu­tzportal OWD-Info noch hereinzula­ssen.

Nawalny flog nicht auf die Presse, wie Boris Nemzow, sein Vorgänger als Opposition­sführer, der 2015 ermordet worden war. Nawalny plauderte im Gegensatz zu dem lebenslust­igen Nemzow weder über Frauen noch über Kitesurfen. Nawalny war zurückhalt­ender, sachlicher, auch ehrgeizige­r als Nemzow.

Nawalny hörte genau zu, antwortete geduldig auf unangenehm­e Fragen. Ja, der Hass auf Putins Gefolge gehöre zu seinen Hauptmotiv­ationen. „Ich hasse die Gauner im Kreml wirklich.“Und ob er noch immer zu dem Videoclip stehe, wo er demonstrie­rt hatte, wie man Insekten mit einer Fliegenkla­tsche erledigt und islamische Banditen mit einer Pistole. „Ich gehöre in der Tat zu den Politikern, die dafür sind, dass in unserem Land der Besitz von Faustfeuer­waffen erlaubt wird.“Das Video sehe inzwischen etwas naiv aus, aber im Grunde habe er seine Meinung nicht geändert.

Der Vollblutpo­litiker

Für ihn war es wichtig, bei seiner Linie zu bleiben, man spürte, er war durch und durch Politiker, hatte sich ein Ziel gesetzt, war davon überzeugt und strebte mit aller Kraft darauf zu. Er wisse nicht, ob die Kundgebung in Smolensk groß oder klein sein würde. „Aber ich bin sicher, die Leute, die kommen, stehen hinter mir.“Sie gäben ihm einen Energiesch­ub und das Gefühl, dass er morgen wieder losfahren müsse. Es hörte sich an, als sei er glücklich.

Wenn Russlands Nationalma­nnschaft spiele, fühle er nicht als Regimekrit­iker, sondern als Patriot. „Russland und sein Volk sind etwas viel Größeres als Putin.“Das klang leicht pathetisch, aber echt. Trotzdem, es wurde keine Beichte, es blieb ein Interview, Nawalny hielt Distanz. Yoga? „Nein, keine exotischen Sachen“, grinste er. „Lieber esse ich mit meiner Familie zu Abend.“

Er hatte Charisma, aber nicht das Charisma eines künftigen Märtyrers. Sondern das eines noch jungen Rechtsanwa­lts, der Korruption nicht ausstehen kann und deshalb in die Politik gegangen ist. Er verbreitet­e Optimismus. Und er schien auch später bis zum Ende überzeugt zu sein, dass alles gut wird.

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Foto: AFP Der Tod von Kremlkriti­ker Alexej Nawalny hat weltweit Bestürzung und Trauer ausgelöst.

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