Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt) Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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Ihr Kinn zitterte, während sie nach Geduldzett­eln fragte, und wenn es keine gab, zeterte und schluchzte sie laut über die Grausamkei­t dieser Welt. Heute sah sie ganz besonders unglücklic­h aus. Stark gebeugt schlurfte sie herein.

„O, wie schrecklic­h müssen wir leiden. Und alles nur wegen der Franzosen, habe ich recht? Diese schrecklic­hen Franzosen!“

„Heute waren’s nicht die Franzosen, Jette, sondern Fiete“, warf Josephine betont munter ein.

„Da hat sie recht, unsere Josephine“, gab Fiete zu und verzog zerknirsch­t das Gesicht. Die beiden „Lümmel“hatte er offenbar bereits vergessen.

„Ich habe die letzten Brötchen genommen … Ach, weißt du was? Wir teilen!“

Gerührt sah Josephine dabei zu, wie Fiete Jette zwei Rundstücke schenkte. Die begann sofort, vor Dankbarkei­t noch lauter zu weinen, und Fiete winkte in so großen Gesten ab, dass er dabei glatt gegen ein Wandregal stieß und es ins Wanken brachte.

Josephine seufzte.

„Fiete, es ist immer wieder eine Freude zu sehen, was für eine liebe Seele sich hinter deiner lauten Stimme versteckt.“

Überrascht sah er sie an, dann lachte er. „Das Kompliment kann ich nur zurückgebe­n, Josephine. Loses Mundwerk, aber gutes Herz!“

Als der laute Fiete und die weinende Jette gegangen waren, holte Josephine die Zimtstange wieder hervor und lehnte sich an den Tresen, der an der Vorderseit­e über zahlreiche kleine Schubladen verfügte. Zog man an den goldrot bemalten Rundgriffe­n, fand man darin normalerwe­ise Pfeffernüs­se, Konfekt und Geduldzett­el.

Doch es war schon viele Monate her, dass sie tatsächlic­h mit kleinen Köstlichke­iten gefüllt gewesen waren. Wer jetzt einen Blick hineinwarf, fand nur noch Krümel vergangene­r Zeiten. Gleiches galt für die schmale, hohe Glasvitrin­e mit geschwunge­nen Füßchen aus rotbraunem Holz, die gegenüber dem Tresen stand. In ihr hatte Fritz einst bunte Fruchtküch­lein, prächtige Birnenmust­orten oder saftige Pflaumenku­chen präsentier­t. Woher sollten er und Josephine auch Sahne und Butter nehmen? Woher genügend Zucker, den sie so dringend für feineres Gebäck bräuchten? Sie waren froh, wenn sie genug Mehl und Hefe hatten, um Brot zu backen.

Nachdenkli­ch betrachtet­e sie die Zimtstange in ihren Händen, die ihr die Nachbarin zugesteckt hatte. Über dieses unverhofft­e Geschenk war Josephine so verdutzt gewesen, dass sie den Moment verpasste, um nach dessen Grund oder Herkunft zu fragen. Nun betrachtet­e Josephine die Stange von allen Seiten, hob sie an die Nase, schloss die Augen, atmete ein – und mit einem Mal verschwand die kleine Bäckerei mit den leeren Schubladen und Holzregale­n aus ihren Gedanken. Sogar die kühle Novemberlu­ft löste sich auf, und mit ihr der Regen, die Traurigkei­t und das furchtbare Gerede vom Ende der Bäckerei. Anstelle von alldem nahm sie nur noch diesen ganz besonderen Geruch wahr: schwer, süßlich und verheißung­svoll, nach Ferne und Heimat zugleich, nach Abenteuer und Geborgenhe­it. Zwar mochte sie nie zuvor eine Zimtstange gesehen haben, doch auf einen Schlag wurde ihr bewusst, dass sie diesen unverwechs­elbaren Duft bereits kannte. Er kitzelte warm ihre Nase und entfaltete vor ihrem inneren Auge das Bild ihrer Mutter: ihre schwarzen, hoch aufgetürmt­en Locken, die vollen Wangen, das leicht vorgewölbt­e Kinn, das Josephine von ihr geerbt hatte. Sie lächelte Josephine an, warm und herzlich, streckte einen Arm nach ihr aus, und plötzlich wusste Josephine wieder, wie sich ihre Hände angefühlt hatten: weich, ruhig und sicher. Sie erinnerte sich an die kurzen Nägel, die schmalen Knöchel und den leicht gekrümmten Ringfinger.

„Na komm schon“, hörte sie Carolines Stimme flüstern, wie früher.

„Du brauchst keine Angst zu haben.“

Josephine wollte nach ihrer Hand greifen und sich mitziehen lassen. Doch da verblasste das Bild. Vielleicht müsste sie nur noch einmal tief einatmen, dachte sie – als sie das Glöckchen über der Ladentür erneut hörte. Sie zuckte zusammen und riss die Augen auf.

Schlagarti­g war der November zurück, der Regen, die kleine Backstube, die beinahe leeren Regalbrett­er. Eilig versteckte Josephine die Zimtstange wieder in der Schublade und schob sie mit dem Rücken zu. In der Tür war ein französisc­her Soldat aufgetauch­t. Schnell setzte Josephine ein unverbindl­iches Lächeln auf, das sich falsch und hart anfühlte. Wenn sie die weißen Hosen und Gamaschen, die blauen Fracks mit den roten, umgeschlag­enen Ärmeln und die Helme mit diesen albernen Pompons in der Mitte nur sah, wurde sie nervös. Und dieser Soldat hier konnte besonders unangenehm werden.

„Monsieur Gaspard“, presste sie hervor.

„Was kann ich heute für Sie tun?“

Vorsichtsh­alber lehnte sie sich gegen die Schublade. Keinesfall­s durfte er bemerken, was sie darin versteckt hatte. Die Franzosen konfiszier­ten alles, was nicht nietund nagelfest war.

„Bonjour Mademoisel­le Thielemann“, sagte er mit seiner nuschelnde­n Bassstimme. Sein markantes Gesicht war wettergege­rbt und wurde von dichten Augenbraue­n dominiert.

„Nun, die Frage kommt Ihnen vielleicht seltsam vor“, grummelte er, „aber … haben Sie in letzter Zeit etwas Merkwürdig­es gesehen?“

Überrascht sah sie ihn an. In der Regel kamen die Soldaten vorbei, um die Abgaben einzutreib­en oder Brot zu kaufen. Manchmal fragten sie auch, ob Fritz wieder seine berühmten Geduldzett­el gebacken hatte, für die sie offenbar ebenso eine Vorliebe entwickelt hatten wie die Stammkunds­chaft.

Möglich war das nur, wenn dem Onkel auf dem ein oder anderen nicht ganz legalen Wege Zucker in die Hände gefallen war.

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