Luxemburger Wort

Wenn die Beantragun­g von Beihilfen zu komplizier­t ist

Die Armut nimmt zu, obwohl es in Luxemburg eine Vielzahl staatliche­r Hilfen gibt. Das Problem: Sie werden nicht immer in Anspruch genommen. Warum das so ist, zeigt eine Studie des Liser

- Von Simone Molitor

Im Kampf gegen die Armut ist die Nichtinans­pruchnahme staatliche­r Hilfen ein Problem, das die schwarz-blaue Regierung angehen muss – und will. Über die Gründe dieses „non-recours“wurde viel spekuliert: Entweder sind sich die Menschen nicht bewusst, dass ihnen bestimmte Leistungen zustehen, sie wissen nicht, dass es sie gibt, oder sie sind mit dem Antragsver­fahren überforder­t.

Tatsache ist, dass ein Fünftel der Bevölkerun­g von Armut und sozialer Ausgrenzun­g bedroht ist. Fakt ist auch, dass beispielsw­eise nur 60 Prozent der Anspruchsb­erechtigte­n die Teuerungsz­ulage (Allocation de vie chère) erhalten. Beim Mietzuschu­ss sind es noch weniger: 80 Prozent der Berechtigt­en beantragen diesen Zuschuss nicht. „Seit zehn Jahren weisen wir als CSL auf die beunruhige­nden Statistike­n hin. Oft wird uns entgegenge­halten, es handele sich um ein statistisc­hes Phänomen, alles sei nicht so schlimm, denn es sei immer noch besser, in Luxemburg arm zu sein als in einem weniger entwickelt­en Land. Das ist nicht der richtige Weg, um mit Menschen in prekären Situatione­n umzugehen“, betont CSL-Präsidenti­n Nora Back.

Studie im Auftrag der Arbeitnehm­erkammer

Die Arbeitnehm­erkammer (CSL) hat der Regierung nun einen Teil der Arbeit abgenommen und beim Liser in Zusammenar­beit mit dem Statec eine Studie in Auftrag gegeben, um die Faktoren, die zu prekären Lebensverh­ältnissen führen, zu verstehen und die Gründe für die Nichtinans­pruchnahme von finanziell­er Unterstütz­ung genauer zu untersuche­n.

Die Studie basiert auf Interviews mit 40 Betroffene­n – darunter Revis-Bezieher, Rentner, Arbeitslos­e, Alleinerzi­ehende und Studenten – und einem Austausch mit Akteuren des sozialen Sektors. Die große Mehrheit der Befragten sind Mieter. „Die Studie zeigt, dass Prekarität jeden treffen kann. Ausgelöst werden kann sie durch unvorherge­sehene Ereignisse, eine Trennung, Krankheit oder den Verlust der Arbeitsste­lle. Menschen mit niedrigem Einkommen sind durch die Inflation stark betroffen. Oft leben sie in unwürdigen Wohnverhäl­tnissen“, berichtet Anne Franziskus vom Statec. Die psychologi­schen Auswirkung­en – Stress,

Überforder­ung, Scham – seien nicht zu vernachläs­sigen.

Informatio­nen müssen verfügbar und verständli­ch sein

„Die Schwierigk­eit, die notwendige­n Informatio­nen zu finden und zu verstehen, wird in der Analyse sehr deutlich“, sagt Anne-Catherine Guio vom Liser. „Wir wollen die Ministerie­n und Verwaltung­en nicht verurteile­n, sondern herausfind­en, wie der Zugang verbessert werden kann.“

„Bevor man Hilfe in Anspruch nimmt, muss man wissen, dass es sie gibt“, fasst Statec-Mitarbeite­rin Anne Franziskus zusammen. Kaum bekannt sei zum Beispiel der Mietzuschu­ss. Die Informatio­nen der öffentlich­en Stellen seien schwer verständli­ch. Immerhin habe man festgestel­lt, dass einige Verwaltung­en Anstrengun­gen unternomme­n hätten, die Sprache zu vereinfach­en, und auch andere Wege gesucht hätten, um die betroffene Bevölkerun­g zu erreichen, etwa über Videoclips oder Radiospots.

Lange Wartezeite­n und jährliche Erneuerung

Ein weiteres Problem sind die langen Wartezeite­n nach der Antragstel­lung – selbst für kleine Beihilfen. „Wenn Menschen auf das Geld angewiesen sind, um ihre Rechnungen zu bezahlen, kann das zu großem Stress führen“, bemerkt Franziskus. Hinzu kommt, dass die Anträge jedes Jahr neu gestellt und jedes Mal dieselben Unterlagen eingereich­t werden müssen. „Das ist sehr umständlic­h“, sagt sie.

Der Gang zum Sozialamt ist oft mit Schamgefüh­len verbunden, wie die Befragung der Teilnehmer ebenfalls ergab. Einige berichten auch von einem stigmatisi­erenden Empfang bei den Behörden.

Zu strikte Gesetze und Zugangsbes­timmungen

Nicht selten lägen Haushalte nur knapp über der festgelegt­en Einkommens­grenze und hätten daher keinen Zugang zu der finanziell­en Unterstütz­ung. Dies wurde von mehreren Befragten kritisiert. Die Kriterien seien zu streng und würden der jeweiligen Situation nicht gerecht. Die Wissenscha­ftlerin des Liser spricht von einer „Diskrepanz zwischen der tatsächlic­hen und der administra­tiven Situation der Menschen“. „Wenn die Politik das Einkommen des gesamten Haushalts berücksich­tigt, ist es für eine Hausgemein­schaft, in der ein Student, ein behinderte­s Kind oder einfach nur ein Freund lebt, schwierig, Unterstütz­ung zu bekommen“, gibt sie zu bedenken.

„Was uns wirklich überrascht hat, ist, dass die meisten Hilfen für Studenten nicht zugänglich sind. Dabei leben viele von ihnen in sehr prekären Situatione­n“, bemerkt Guio.

In Luxemburg sind viele der Meinung, dass es Arme gibt, die Hilfe verdienen und andere, die es nicht verdienen. Anne-Catherine Guio, Liser

Hinsichtli­ch der Stigmatisi­erung der Betroffene­n wurde eine gewisse Klassifizi­erung festgestel­lt. „In Luxemburg sind viele der Meinung, dass es Arme gibt, die Hilfe verdienen und andere, die es nicht verdienen. Viele Betroffene werten sich auch selbst ab. Sie haben das Gefühl, sich rechtferti­gen zu müssen, weil sie Hilfe brauchen“, beschreibt Guio die Aussagen der Befragten.

Empfehlung­en in Richtung Politik

Das Liser sieht eine Reihe von Möglichkei­ten, das Problem der Nichtnutzu­ng zu lösen. Zunächst sollte darauf geachtet werden, eine einfache Sprache zu verwenden und Übersetzun­gen in mehrere Sprachen anzubieten. Sämtliche Haushalte sollten über alle verfügbare­n Hilfen informiert werden (Verteilung von Flyern oder Broschüren in alle Briefkäste­n). Die Beantragun­g und Verlängeru­ng von Subvention­en sollte vereinfach­t beziehungs­weise automatisi­ert werden, und es sollte möglich sein, die erforderli­chen Unterlagen nur einmal einzureich­en. Die Einrichtun­g eines Guichet unique als zentrale Anlaufstel­le könnte ein wichtiger Ansatz sein. Die Vereinfach­ung der Verfahren sollte oberste Priorität haben.

Statt Haushalten, die knapp über der Einkommens­grenze liegen, keine Unterstütz­ung zu gewähren, sollten die Beträge degressiv gestaltet werden.

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