„Der Faktor Zeit spielt für Putin“
Der Historiker Jörn Leonhard spricht über Donald Trumps falsche Friedens-Versprechen für die Ukraine und die Folgen transatlantischer Wankelmütigkeit
„Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen“: Dieses fälschlicherweise dem griechischen Philosophen Platon zugeschriebene Zitat stammt eigentlich aus der Feder des 1863 in Spanien geborenen amerikanischen Philosophen George Santayana. Demnach endet ein Krieg keineswegs mit der Einstellung der Kampfhandlungen, sondern verstetigt sich als Trauma in den Köpfen der Überlebenden. Auch auf dem Feld der Diplomatie ist der Weg zu einem nachhaltigen Frieden eine große Herausforderung. Der renommierte Historiker Jörn Leonhard hat sich in seiner aktuellen Monografie genau diesem Thema gewidmet. „Über Kriege und wie man sie beendet“– ein Interview.
Jörn Leonhard, Kriege sind leichter zu beginnen als Frieden zu schließen. Warum ist das so?
Wenn wir uns an Kriege erinnern, haben wir eher die ikonischen Anfangsmomente im Kopf, die Schüsse von Sarajewo 1914 oder den Prager Fenstersturz 1618. Kriegsenden vollziehen sich häufig als viel längere Prozesse. Im November 1918 endete der Krieg an der Westfront in Europa. Aber in Osteuropa war der Staatenkrieg seit Ende 1917 in einen blutigen Bürgerkrieg übergegangen, der erst 1922 auslief. Die Vorstellung, dass mit dem Abschluss eines Waffenstillstands oder selbst eines Friedensvertrags nach einer Konferenz Frieden einfach entsteht und damit alle Probleme gelöst sind, ist in der Praxis kaum realistisch.
Donald Trump hat versichert, er könne den Krieg in der Ukraine binnen 24 Stunden beenden. Ist das überhaupt realistisch?
Das wäre nur dann realistisch, wenn die USA bereit wären, jegliche Hilfe für die Ukraine einzustellen und sich komplett auf Wladimir Putins Ziele einzulassen. Dann wäre es der von Russland angestrebte Siegfrieden, was zu massiven Konflikten zwischen Europa und den USA führen müsste. Das Bild, das sich zwei Monarchen treffen, sich die Hand reichen und den Frieden damit besiegeln, stimmt so schon nicht für die Vormoderne, und in modernen Kriegen noch viel weniger. Viele Dimensionen des Konflikts lassen sich damit nicht erfassen: weder die Einbindung vieler anderer Akteure, noch die Dimension des internationalen Wirtschaftsund Energiekrieges.
In Ihrem Buch schreiben Sie über einen „faulen Frieden“. Was ist das genau und stünde die Ukraine im Falle von Verhandlungen zwischen den USA und Russland nicht vor so einem?
Historisch waren Beispiele eines „faulen Friedens“von einseitigen Konzessionen gekennzeichnet. Dahinter steht die Hoffnung, aus dem Krieg herauszukommen, einen Krieg zu verhindern oder die Fortsetzung des Krieges zu unterbinden. Doch diese Konzessionsbereitschaft kann ein Aggressor als Zeichen dafür lesen, dass der Gegner bereit ist, noch weitergehende
Zugeständnisse zu machen. Warum soll der Aggressor dann nicht weitergehen und etwa einen Staat komplett zerschlagen?
Ein Beispiel sind die 1930er-Jahre, als die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs Adolf Hitler sehr weit entgegenkamen. Sie verbanden damit die Hoffnung, einen großen Krieg zu verhindern. Doch faktisch opferten sie mit der Tschechoslowakei einen souveränen, unabhängigen Staat und anerkanntes Mitglied des Völkerbundes. Hitler erkannte darin ein Signal für die geringe Widerstandsbereitschaft der Siegermächte von 1918. Das Ergebnis war eben keine Pazifizierung, sondern die Intensivierung der Gewalt. Diese Gefahr sehe ich im Falle der Ukraine auch.
Europa hat bislang keine überzeugende Antwort auf einen möglichen Machtwechsel im Weißen Haus und einen möglichen Rückzug der USA aus dem Ukrainekrieg gefunden.
Kommen wir noch einmal auf Donald Trump zurück: Ist es auch eine Typfrage, wenn zwei Länder um einen Frieden verhandeln?
Bei konkreten Verhandlungen sitzen Menschen zusammen, müssen einen Kommunikationskanal finden und persönliches Vertrauen aufbauen. Während der Waffenstillstandsverhandlungen im KoreaKrieg trafen sich zwar Delegationen. Aber das Vertrauen war so gering und die Gegensätze so groß, dass sich die Mitglieder der beiden Delegationen über Stunden und Tage nur anschwiegen. Es dauerte lange, bis sich eine minimale Kommunikationsgrundlage entwickelte. Wir wissen aber umgekehrt, dass zum Beispiel Henry Kissinger ein Meister darin war, durch sogenannte „Back Channel“-Kommunikation ein Minimum an persönlichem Vertrauen aufzubauen.
Erleben wir also in der Ukraine einen Krieg neuen Typs, auf den die Diplomatie noch keine Antworten hat?
Die meisten größeren Kriege in der Neuzeit waren hybride Konflikte. Am Beginn des Ersten Weltkrieges wurden noch Kavallerieverbände eingesetzt, und wenige Monate später kam es zum Einsatz von Giftgas. Einerseits entstand im Krieg die moderne Artillerie als Hauptwaffe auf weite Distanzen, andererseits baten britische Offiziere noch am ersten Tag der Somme-Schlacht darum, mit gezogenem Säbel aus den Gräben steigen zu dürfen. Auch zum modernen Krieg gehört also das Nebeneinander von geradezu archaischen und modernen Elementen. Das zeigt sich auch im Ukrainekrieg. Hinzukommt hier die große Bedeutung von Ressourcen über Panzer, Raketen und Munition hinaus. Denken wir nur an den Einsatz der Energie als eine Waffe und mit Blick auf die Wahlen in den USA und der EU den Kampf um die Ressource Zeit. Und es ist ein Krieg um die Deutungshoheit, um Bilder und Nachrichten. Über die neuen Medien kommt es zu einer enormen Beschleunigung, die sich viel weniger als früher kontrollieren lässt.
Bleiben wir beim Thema Ressourcen. Wie schätzen Sie die Lage der beiden Kriegsparteien ein?
Die Möglichkeit, Ressourcen zu mobilisieren, sind asymmetrisch verteilt, um es vorsichtig auszudrücken. Ohne massive westliche Hilfen kann die Ukraine diesen Krieg nicht über mittlere oder längere Frist fortführen. Aber selbst ein militärisches Patt bedeutet nicht, dass sich die politische oder militärische Führung zu Verhandlungen gedrängt sehen muss. Ökonomisch hatte das nationalsozialistische Regime den Zweiten Weltkrieg spätestens ab 1942 verloren. Allerdings folgen dann noch drei besonders blutige Jahre. Mit anderen Worten kann man von der objektiven Ressourcensituation nicht unbedingt auf den Friedenswillen der Akteure schließen. Es kann eben auch genau zum Gegenteil führen.
In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass sich der Wille zum Widerstand an der Zahl der Kriegsgefangenen ablesen lässt. Viele ukrainische und russische Männer haben sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen. Wie bewerten Sie das?
In früheren Kriegen spielte das eine große Rolle. Aber derzeit gibt es weder auf ukrainischer noch auf russischer Seite Anzeichen dafür, dass sich Einheiten nach Durchbrüchen massenweise ergeben würden. Das mag sich mit längerer Dauer verändern. Aber in den meisten Kriegen nach 1945 nimmt dieser Faktor an Bedeutung eher ab. Rein quantitativ spielen Kriegsgefangene im Ukrainekonflikt keine überragende Rolle. Und die Ukrainer im Ausland sind natürlich keine Kriegsgefangenen. Eher können sie als Maßstab dafür dienen, wie sie ihre Situation selbst einschätzen. Wenn sie die unsichere Unterstützung des Westens für die Ukraine erleben, werden sich viele junge Männer die Frage stellen, warum sie dafür ihr Leben riskieren sollen? Hier erweist sich, wie sehr die Ukrainer selbst an die Möglichkeit einer positiven langfristigen Perspektive glauben.
Das hört sich recht pessimistisch an?
Historiker sind eigentlich keine Alarmisten, und ich will auch nicht so klingen. Aber ich bin mindestens beunruhigt darüber, dass man in Europa nicht zu begreifen scheint, wie wichtig die nächsten Monate werden. Europa hat bislang keine überzeugende Antwort auf einen möglichen Machtwechsel im Weißen Haus und einen möglichen Rückzug der USA aus dem Ukrainekrieg gefunden. Diese Perspektive wird Wladimir Putin eher zu einer Intensivierung der Gewalt motivieren. Die Gegenoffensive der Ukraine ist faktisch gescheitert, und das Ausmaß der westlichen Unterstützung über lange Zeit ist unsicher. Also wirkt sich der Faktor
Zeit eher für Putin aus, und danach agiert er. Der französische Kriegspremier Georges Clemenceau hat im Frühjahr 1918 eine Rede gehalten, in der er ein Sprichwort zitierte: „Diesen Krieg gewinnt, wer eine Viertelstunde länger aushält“. Das unterstreicht noch einmal, warum die Gewalt gerade in der Endphase von Kriegen häufig nochmals eskaliert.
Weder Kiew noch Moskau ist zu Konzessionen bereit. In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass derartige Angebote als Zeichen der Schwäche interpretiert werden und den Krieg verlängern können. Inwiefern gilt das auch für den Ukrainekrieg?
Die Ukraine hat das entscheidende völkerrechtliche Argument auf ihrer Seite. Würde sie gegenüber einem Aggressor wie Putin auf eigenes Territorium verzichten und im Gegenzug keine wirklich glaubwürdigen Konzessionen von der Gegenseite erhalten, dann würde aus der Konzessionsbereitschaft auch eine politische Defensive gegenüber der eigenen Gesellschaft. Denn einseitige Konzessionen erscheinen dann schnell als Verrat an den vielen Opfern, die man schon gebracht hat. Solange eine oder beide Seiten nach Abwägung aller Faktoren weiter auf eine militärische Lösung setzt, hat die Diplomatie noch keine Chance. Eine der größten Herausforderungen besteht in einem Krieg darin, den Moment zu definieren, in denen es allen Seiten mit ihren Konzessionen ernst ist und sie nicht bloß taktischer Natur sind.
Zum Schluss die Gretchenfrage: Wie beendet man den Krieg in der Ukraine?
Russland muss durch entschiedene westliche Unterstützung der Ukraine zu der Einsicht gezwungen werden, dass es seine Ziele nicht auf dem Schlachtfeld erreichen kann. Erst mit dieser Erkenntnis wird sich das diplomatische Fenster öffnen. Eine große Schwierigkeit wird dann sein, glaubwürdige Vermittler mit einem robusten Mandat zu finden. China und die USA sind Parteien in diesem Krieg, und Brasilien oder Indien sind militärisch nicht in der Lage, Bestimmungen eines Waffenstillstands oder gar eines Friedensvertrags durchzusetzen. Ein „fauler Frieden“mit einseitigen Konzessionen würde auf eine taktische Pause und die Verlagerung der Gewalt hinauslaufen. Und niemals dürfen wir vergessen, dass vom Ende von Kriegen immer eine Signalwirkung für andere globale Konflikte ausgeht. Dass sich militärische Aggression am Ende durchsetzt, wäre ein verheerendes Zeichen für Europa und weit darüber hinaus.