Eine Karikatur sagt mehr als 1.000 Worte
ZOOM auf das Literaturarchiv 102: Gezeichnete Zeitzeugnisse von Guy W. Stoos und Serge Kugener
Karikaturen begleiten die satirische Literatur in Luxemburg seit den Anfängen. Auch das Literaturarchiv hat über die Jahre eine kleine, aber feine Kollektion an Karikaturen unterschiedlichster Künstler zusammengetragen, unter ihnen Roger Manderscheid, Carlo Schneider, Albert Simon und Gab Weis. Auf die schlagartige Vergrößerung der Sammlung durch den Erhalt von Roger Leiners Gesamtwerk im Jahr 2018, folgten 2023 die Werke von Guy W. Stoos und Serge Kugener.
Grundverschiedene Künstler auf sich kreuzenden Pfaden
Der Bestand von Guy W. Stoos (1950-2022) umfasst ca. 3.500 Tuschezeichnungen aus den Jahren 1983 bis 2015 sowie digitale Karikaturen und Fotomontagen aus den 2000ern. Der engagierte Karikaturist entdeckte seine Liebe zum Zeichnen bereits im Kindesalter und erkannte bald, dass er dieses Medium auch für die Vermittlung politischer Ideen einsetzen konnte. Dank seines Brotberufs als Informatiker konnte er sich die notwendige publizistische Unabhängigkeit wahren, um seine Feder in den Dienst all jener zu stellen, die mit ihm auf einer Wellenlänge lagen. Nach seinen Anfängen in d’Letzeburger Land, Tageblatt und forum kehrte er der systemfreundlichen Presse, wie er sie nannte, den Rücken und arbeitete vorwiegend für alternative Publikationen, so. z.B. Zeitung vum Lëtzebuerger Vollék und Den neie Feierkrop, GréngeSpoun/Woxx und Kéisécker sowie für gemeinnützige Vereine wie ASTI, Amnesty International, ASTM und Mouvement écologique. Seine Tendenz, universelle Werte über spaltende Parteipolitik zu stellen, brachte ihm den Ruf einer Integrationsfigur der Linken ein.
Stoos’ Werk kann grob in zwei Phasen eingeteilt werden. Die Karikaturen der 1970er und 1980er zeichnen sich durch ihren minimalistischen Stil aus, der soziale Missstände ohne ablenkende Verschnörkelungen ans Licht fördert. Die ausdruckslosen Figuren, die sich nur durch ihre soziale Klasse voneinander unterscheiden, werden zum Symbol für die Dehumanisierung der modernen Gesellschaft, in der das Individuum in der Masse untergeht. Sind sie zunächst noch völlig ohnmächtig der (Selbst-)Ausbeutung ausgeliefert und ertragen stoisch die Last dieser Ungerechtigkeiten, so entdecken die Figuren nach und nach ihre Handlungskraft. Dabei sind es besonders die Frauenfiguren, die sich gegen systemischen Sexismus auflehnen.
Ende der 1980er begann eine neue Phase, in der Guy W. Stoos aktuelle politische Themen in Form von Einzelbildern mit Sprechblasen kommentierte und sich damit stilistisch der Tradition eines Albert Simon näherte. Anders als in den wortlosen Karikaturen der Frühphase kombinierte er Text und Bild, um die Verfehlungen der Führungsklasse und die Doppelmoral von Politikern aller Couleur schonungslos bloßzustellen. Im Jahr 2000 erweiterte er sein Repertoire mit „Fauxtos“genannten Fotomontagen. Daneben illustrierte er unter anderem zehn Buchcover für Guy Rewenig, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, und veröffentlichte fünf Karikaturenbände, zwei Ende der 1970er Jahre und drei zwischen 2007 und 2010.
Serge Kugeners (*1966) Bestand umfasst an die 500 Tuschezeichnungen, Aquarelle, Collagen und Originale für Werbeaufträge aus den 1980ern und frühen 1990ern. Auch er fand früh zu Karikaturen und illustrierte bereits während seiner Gymnasialzeit die Schülerzeitung. Während bei Guy W. Stoos die politische Botschaft immer im Mittelpunkt stand, liegt Kugeners Werk thematisch und stilistisch näher an Roger Leiner. Auch er zeichnete nicht nur politische und humoristische Karikaturen, sondern nahm auch Auftragsarbeiten für Privatpersonen und Geschäfte an. Allerdings gibt es auch interessante Parallelen zu Guy W. Stoos. Ende der 1980er erschienen seine realitätsnahen Portraits nationaler und internationaler Politiker im Tageblatt und seine Karikaturen in der satirischen Beilage Feierkrop der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollék.
Bilder bewegen
Auch auf einem anderen Gebiet gibt es eine Gemeinsamkeit. Guy Stoos war 1972 Mitbegründer des Amateur-Filmclubs Camera 2000 A.C. in Rollingergrund und stellte wenig später zwei kurze 16 mm-Zeichentrickfilme her: Earthday (1973) und Et mon oil (1974). Beide Filme gewannen Preise beim nationalen Amateurfilmwettbewerb und gehören somit zu dem besten, was in jener Zeit in Luxemburg produziert wurde. In Serge Kugeners Bestand befinden sich die Originalzeichnungen für einen kurzen Trickfilm, der 1990 im Rahmen eines Zeichentrickkurses entstand, der von einem anderen Luxemburger Trickfilmpionier geleitet wurde: Roger Leiner. Die Teilnehmer erstellten einen ca. 30-sekündigen Trickfilm mit Gouache auf Zellulose, der anschließend auf 35 mm Film übertragen wurde. Damit ist Serge Kugener einer der wenigen Luxemburger Zeichner, die einen eigenen Trickfilm ganz von Hand gemacht haben.
Bereits in den 1980er Jahren beklagte Guy Stoos, dass es zu wenige Luxemburger Kari
katuristen in der heimischen Presse gäbe. Vierzig Jahre später sind sie fast eine aussterbende Spezies geworden. Gründe hierfür sucht man eher in der stetigen Verschlechterung der Publikationsbedingungen als in der Qualität der Zeichnungen. Roger Leiner konnte dank des Erfolgs von Superjhemp und seiner kommerziellen Arbeit vom Zeichnen leben. Guy Stoos schaffte es durch seinen Idealismus in unermüdlicher Arbeit alles unter einen Hut zu bringen. Serge Kugener gründete Ende der 1990er Jahre eine Werbefirma und veröffentlichte nach seiner kurze Schaffensperiode keine Karikaturen mehr, obwohl diese seinerzeit bei nationalen und internationalen Festivals ausgezeichnet wurden. Waren schwarz-weiße Karikaturen in spärlich bebilderten Printmedien in den 1980ern noch eine kostengünstige Lösung, um die Aufmerksamkeit der Leser zu erregen, so stehen gezeichnete Karikaturen heute in Konkurrenz zur multimedialen Bilderflut aus Kurzvideos, GIFs, Fotomontagen und Memes in sozialen Medien. Angesichts der Möglichkeiten, Karikaturen mithilfe von künstlicher Intelligenz in Sekundenschnelle zu erstellen, sind klassische Zeichner mittlerweile wohl eine der teuersten Optionen geworden, um die Aktualität zu kommentieren. Es ist nicht abzusehen, wie sich dies auf die Qualität des politischen Kommentars auswirken wird, doch die schiere Masse an größtenteils anonymen Bildern wird eine große Herausforderung für die zukünftige historische Aufarbeitung sein.
Es ist eine große Kunst, gesellschaftliche Stimmungen und politische Diskussionsthemen in der extrem komprimierten Form der Karikatur einzufangen. In der Aneinanderreihung werden diese Momentaufnahmen zu illustrierten Chroniken und schlagen eine Brücke zwischen ihrer Entstehungszeit und heute. Gerade wegen des unersetzbaren Feingespürs der Karikaturisten ist es somit wichtig, ihr Erbe zu erhalten und ein Bewusstsein für ihre Arbeit zu schaffen.