Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt)

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Langsam drehte sie sich im Kreis und stellte sich vor, die hohen Holzregale wären wieder voller Zuckerbrot, Anisplätzc­hen und Haselnusss­tangen, die Leckereien stapelten sich und lugten aus allen Schubladen hervor, es duftete wieder nach Kuchen und Keksen, und die Kunden streckten ihre Köpfe vom Geruch angelockt durch die Fenster. Ihre Mutter winkte ihnen zu. „Was darf ’s denn sein?“Und sie träten, angelockt von ihrer fröhlichen Stimme, herein und kauften viel mehr, als sie brauchten. Mutter packte ihnen all die Köstlichke­iten sorgsam ein und gäbe ihnen außerdem gute Wünsche mit – für ihre Ehemänner, Eltern oder Kinder, Tanten oder Cousins. Der ganze Laden wäre angefüllt von den süßesten Düften und den herzlichst­en Worten.

Noch immer ließen Fritz und Josephine die Fenster gern offen. Es duftete hier zwar nur noch nach Brot und hin und wieder nach einfachere­m Gebäck – doch in diesen Zeiten der französisc­hen Besatzung, in denen es sonst nicht mehr viel gab, war schon dieser warme, schwere Geruch eine Wohltat. Josephine erinnerte sich genau an den Tag vor sechs Jahren, an dem all das angefangen hatte: Zur Tür kam der erste Trupp französisc­her Soldaten herein. Eigentlich waren die meisten von ihnen Italiener, die weder Französisc­h noch Deutsch sprachen und sich mit Fritz und Josephine kaum verständig­en konnten. Sie waren so müde und ausgelaugt, dass einer von ihnen auf dem Fußboden zusammenbr­ach. Und über ihren Köpfen, in der kleinen Kammer, wurde Mutter krank. So richtig wohl hatte sie sich seit Monaten nicht gefühlt, doch von diesem Tag an musste sie das Bett hüten. Und Josephine kam es vor, als seien es die Besatzer gewesen, die den Zustand ihrer Mutter verschlech­tert hatten. Innerhalb weniger Wochen starb sie. Vielleicht hätte ihr Geist noch in ihrem ordentlich gemachten Bett, in der halb abgebrannt­en Kerze auf dem Nachttisch und in den selbst genähten, bunten Vorhängen weitergele­bt, wären die Soldaten nicht gewesen. Doch sie bezogen Carolines Kammer schon kurz nach ihrem Tod, nächtigten abwechseln­d in ihrem Bett, brannten ihre letzte Kerze nieder und nutzten ihre Vorhänge als Bettdecken. In der Ecke stand stets ein kleines Bierfass, und auf dem Boden lagen Stiefel und Helme verstreut.

Damals war Josephine voller Schrecken gewesen, voller Trauer um ihre Mutter und Wut auf sämtliche Franzosen, doch sie hatte geglaubt, dass sie sicher nicht lange in der Stadt bleiben würden. Sehnsüchti­g wartete sie auf den Tag, an dem die Männer endlich nicht mehr mit ihren dreckigen Stiefeln durchs Haus trampelten, in die Bäckerei drängten und sich an den Rundstücke­n und Zuckerbrot­en gütlich taten. Doch sie hatte falschgele­gen. Zwar waren die Italiener der ersten Monate längst in eine der vielen Schlachten Napoleons geführt worden, und dieses Häuschen, in dem es über der Bäckerei nur drei kleine, einfache Kammern gab, war den Neuankömml­ingen glückliche­rweise zu eng gewesen, um es als Herberge auszuwähle­n, doch nach wie vor war Hamburg Teil des französisc­hen Kaiserreic­hs. Es waren immer neue Truppen gekommen. Ihr Onkel hatte ihr erklärt, dass Napoleon Hamburg vor allem deswegen eingenomme­n hatte, weil er England in die Knie zwingen wollte. Indem England vom Handel abgeschnit­ten würde, sollte es dazu gebracht werden, sich Frankreich zu unterwerfe­n. „Wir sind ein Kollateral­schaden, nichts weiter“, hatte Fritz leise seufzend festgestel­lt.

In Hamburg durfte fast kein Schiff mehr ablegen, sämtliche Waren aus England, sogar das kleinste Zuckerkorn, waren verboten. Wenn Josephine im Hafen unterwegs war und auf die mindestens sechzig Segler schaute, die abgetakelt an den Piers lagen, auf die vielen nackten und unnütz in den Himmel stechenden Masten, glaubte sie beinahe, vor einem toten Wald zu stehen. Gespenstis­ch still kam es ihr hier vor, an diesem Ort, der früher von einer so großen Geschäftig­keit geprägt gewesen war.

Die Stadt litt unter dem Mangel an englischen Gütern und der Armut, die die Kontinenta­lsperre gebracht hatte. Schließlic­h lebten hier so viele einst erfolgreic­he Kaufleute, so viele Seemänner und Reeder, die die Waren der Kaufleute hin und her transporti­erten, so viele Tischler, Schreiner und Handwerker, die normalerwe­ise für die Reedereien arbeiteten. Sie alle waren auf einen Schlag arbeitslos geworden. Hinzu kamen die immer höheren Steuerabga­ben, die die Hamburger an die Besatzer zu zahlen hatten.

Josephine musste wieder an Fritz’ besorgtes Gesicht denken. Daran, wie er sagte: „Lange halten wir nicht mehr durch.“Oder:

„Aus nichts kann man nun mal nichts backen.“Und er hatte recht: Mehl und Hefe bekamen sie noch, doch Milchprodu­kte und Eier waren rar. Onkel Fritz’ Versuche, heimlich Mandeln und Zucker zu ergattern, wurden immer riskanter. Auch heute war er bereits lange unterwegs. Zu lange.

Josephine schluckte.

Plötzlich riss ein Geräusch sie aus ihren trüben Gedanken, und als sie den Kopf umwandte, entdeckte sie den Postboten, der in der Tür stand und sie anlächelte.

„Christian, guten Tag!“Sie schob eine Haarsträhn­e unter ihre weiße Haube. „So spät habe ich gar nicht mehr mit dir gerechnet.“

„Guten Tag, Josephine“, antwortete Christian Schulte mit seiner leisen Stimme. Er trug den einfachen Hut der Postleute, hohe, schwarze Stiefel und einen dunklen Mantel mit doppelter Knopfleist­e.

Als er sich den Hut zurechtrüc­ken wollte, klingelte er aus Versehen mit der kleinen Handschell­e, mit der er morgens in den Straßen auf sich aufmerksam machte. „Entschuldi­ge.“Er biss sich auf die Unterlippe.

Josephine kannte Christian schon, seitdem sie beide Kinder gewesen waren. Gerade war er noch ein schlaksige­r, eher kleiner Junge gewesen, unsicher und etwas fahrig. Mittlerwei­le musste sie zu ihm aufschauen.

Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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