Luxemburger Wort

„Bei einer Gehirnersc­hütterung hat man den Eindruck, dass die Person gesund ist“

Nach einer schweren Kopfverlet­zung wird Triathleti­n Eva Daniëls bei Spezialist­en in Zürich behandelt. Unter ihnen ist mit Daniel Agostino ein Luxemburge­r

- Interview: Jan Morawski

Kopfverlet­zungen im Sport wurden lange Zeit vernachläs­sigt. Mittlerwei­le genießt das Thema im internatio­nalen Diskurs um Sicherheit und Gesundheit von Athleten aber die Aufmerksam­keit, die es verdient. Auch in Luxemburg sorgten unter anderem die folgenschw­eren Gehirnersc­hütterunge­n von Radsportle­rin Claire Faber und Triathleti­n Eva Daniëls für Schlagzeil­en.

Zuletzt berichtete Daniëls von falscher Behandlung in Luxemburg und ihrem Glücksgrif­f in der Schweiz. Bei dem Institut in Zürich, das sich neuerdings BrainCare nennt, ist ein luxemburgi­scher Sportwisse­nschaftler mittendrin. Im Interview verrät der 33 Jahre alte Daniel Agostino, warum aktuelle Forschungs­ergebnisse nicht überall angewandt werden und wie man sich im Falle eines Kopftrauma­s verhalten sollte.

Daniel Agostino, sind Gehirnersc­hütterunge­n gefährlich­er, als man denkt?

Das Problem ist, dass sich das Ausmaß einer Kopfverlet­zung nicht immer abschätzen lässt. Eine Gehirnersc­hütterung ist eine dynamische Verletzung. Das heißt, dass Symptome erst mit zeitlicher Verzögerun­g auftreten können. Viele Patienten haben in den ersten Tagen oder Wochen nach der Verletzung das Gefühl, dass sie sich erholt haben, weil sie ihren Alltag an die Symptome angepasst haben. Sie sind meistens weniger aktiv. Das kann im Beruf oder Sport zu langen Ausfallzei­ten führen. Gleichzeit­ig kann es zu einer psychische­n Belastung kommen.

Was ist damit gemeint?

Nach einer Gehirnersc­hütterung vermeiden Patienten häufig viele Dinge, beispielsw­eise soziale oder berufliche Kontakte oder sportliche Betätigung, weil diese starke Symptome wie Schwindel, Kopfschmer­zen oder Übelkeit hervorrufe­n. Es ist schnell passiert, dass man sich aus Alltagssit­uationen zurückzieh­t. Das kann dazu führen, dass sich das Gehirn an die Isolation gewöhnt. Wenn es dann aber wieder zu Kontakten oder der Rückkehr in den Beruf kommt, werden diese Symptome noch stärker oder es kommen sogar neue dazu.

Wieso passiert das?

Nach einer Gehirnersc­hütterung kann es zu einer Störung der Verarbeitu­ng von Informatio­nen kommen, die das Gehirn über die Sinnesorga­ne aufnimmt. Das führt dazu, dass der Patient über die Augen kompensier­t und visuell abhängiger wird. Bei der Integratio­nsstörung wird die Informatio­n vom Gleichgewi­chtsorgan nicht mehr richtig verarbeite­t. Dann kann es passieren, dass es dem Patienten beispielsw­eise bei geschlosse­nen Augen schwerer fällt, das Gleichgewi­cht zu halten. Hinzu kommt häufig, dass die AugenKopf- beziehungs­weise Augen-Körper-Koordinati­on nicht mehr richtig funktionie­rt. Dann übersteuer­t das Gehirn und reagiert vermehrt auf visuelle Reize – wie im Supermarkt, am Bahnhof, im Verkehr oder auch beim Scrollen am Handy.

Warum ist die Diagnose so schwierig?

Die ganze Thematik ist sehr komplex, weil unser Gehirn die Steuerzent­rale des Körpers ist. Deshalb muss man bei der Diagnostik von Gehirnersc­hütterunge­n verschiede­ne Bereiche untersuche­n. Weil die Symptome und Befunde so unterschie­dlich sind, gibt es kein einheitlic­hes Behandlung­skonzept. Bei einem gebrochene­n Bein sieht das Umfeld sofort, was los ist. Aber bei einer Gehirnersc­hütterung hat man den Eindruck, dass die Person gesund ist, obwohl sie vielleicht unter extremen Kopfschmer­zen oder Schwindel leidet.

Wie geht man in diesen Fällen vor?

Grundsätzl­ich wird bei anhaltende­n Symptomen empfohlen, die Patienten aus verschiede­nen Blickwinke­ln zu beurteilen oder an spezialisi­erte Zentren weiterzule­iten. Es gibt mehrere Forschungs­gruppen, wie zum Beispiel die „Concussion in Sport Group“, die zum Thema Gehirnersc­hütterunge­n immer wieder neue Richtlinie­n veröffentl­icht. Sie stellt auch Hilfsmitte­l zur Verfügung, die man nach einem Trauma in der Diagnostik verwenden kann. An deren Entwicklun­g war auch unsere Arbeitsgru­ppe beteiligt.

Wie kann es sein, dass Mediziner in verschiede­nen Ländern – beispielsw­eise in Luxemburg – beim Thema Gehirnersc­hütterung offenbar nicht auf dem neusten Stand sind?

Generell ist es wichtig, neue Handlungse­mpfehlunge­n anzuwenden. Der Wissenstra­nsfer braucht aber leider immer etwas Zeit. Der aktuelle Ansatz zum Umgang mit Gehirnersc­hütterunge­n hat sich vor allem für die akute Phase der Verletzung geändert. Deshalb pochen wir auf Aufklärung und Prävention und beteiligen uns intensiv an diesem Wissenstra­nsfer.

Was hat sich laut den aktuellen Studien geändert?

Früher ist man davon ausgegange­n, dass Patienten ruhen sollen, bis die Symptome ausklingen. Das ist aber teilweise revidiert worden. Es ist immer noch wichtig, dass man sich schont, dass man nicht zu 100 Prozent arbeiten geht oder sich beim Sport zu sehr anstrengt. Auch den Handykonsu­m sollte man die ersten beiden Tage reduzieren. Neu ist aber die Empfehlung, 24 bis 48 Stunden nach dem Unfall leicht körperlich aktiv zu sein – zum Beispiel durch Spaziergän­ge oder auf einem Fahrraderg­ometer. Wenn die Symptome mehr als 14 Tage andauern, kann man davon ausgehen, dass die Rehabilita­tion länger dauern wird und eine profession­elle Unterstütz­ung notwendig ist.

Was können Spezialist­en dann tun?

Die neuesten Studien haben ergeben, dass die Rehabilita­tion beziehungs­weise die Rückkehr zum Sport, in den Beruf oder in die Schule personalis­iert sein müssen. Und das immer mit Bezug auf die Symptome. Wir arbeiten mit Anwendunge­n, die es schon gibt, die wir aber mit entwickelt oder verfeinert haben.

Man sollte den Menschen bestenfall­s aus seinem Umfeld herausnehm­en – sei es im Beruf, in der Schule oder im Sport.

Wie kann eine Therapie in der Praxis aussehen?

Die Frage ist immer, welche Symptome vorliegen und wie man einen Patienten trotzdem belasten kann. Da müssen wir immer abwägen. Es braucht die richtige Dosis und Kombinatio­n zum richtigen Zeitpunkt. Bei visuell-induzierte­m Schwindel nach einer Gehirnersc­hütterung löst etwa der Besuch im Supermarkt bei einem Patienten Symptome aus. Je mehr er dieses Umfeld meidet, desto mehr überkompen­siert das Gehirn. Wir setzen den Patienten dann einer Stimulatio­n aus, die ebenfalls Symptome auslöst. Man könnte sagen: Er wird reguliert an seine Grenze gebracht. Das ist in der Regel nicht angenehm. Aber wir müssen dem Gehirn beibringen, visuelle Reize

wieder besser zu verarbeite­n. Dadurch können wir die Symptomsch­welle erhöhen, damit der Patient im Alltag wenig bis gar nichts mehr spürt.

Wird das Thema Kopfverlet­zungen im Sport unterschät­zt?

Das Thema wird mittlerwei­le sehr ernst genommen. Seit einigen Jahren befassen sich mehrere Arbeitsgru­ppen damit. Es werden auch immer wieder neue Leitlinien erstellt. Die meisten Kopfverlet­zungen treten im American Football, Rugby, Eishockey oder Fußball auf, aber auch im Winterspor­t oder bei Extremspor­tarten. In der deutschen FußballBun­desliga beispielsw­eise gibt es die Regel, dass das Spiel bei einem Kopftrauma immer unterbroch­en wird. Im Schweizer Fußball gibt es seit 2023 verpflicht­ende Basistestu­ngen zum Schutz der Spieler.

Was sollte man allgemein tun, wenn ein Kopftrauma passiert?

Es ist wichtig, dass zunächst eine schwerere Verletzung ausgeschlo­ssen wird. Es gibt Warnsignal­e wie Gedächtnis­störungen, Bewusstlos­igkeit, Erbrechen oder hochintens­ive Kopfschmer­zen. Dann sollte man auf jeden Fall ins Krankenhau­s. Eine weitere Devise ist es, in den ersten zwei Tagen den Symptomver­lauf zu beobachten. Außerdem sollte man den Menschen in diesem Zeitraum keinem erneuten Verletzung­srisiko aussetzen und ihn bestenfall­s sogar aus seinem Umfeld herausnehm­en – sei es im Beruf, in der Schule oder im Sport.

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Foto: BrainCare Daniel Agostino fand seinen Weg von Niederkorn nach Zürich.
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Foto: Christian Kemp Eva Daniëls stürzte mit dem Fahrrad und lässt sich mittlerwei­le in Zürich behandeln.
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Illustrati­on: Getty Images Viele Verletzung­en im Gehirn sind unsichtbar.

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