Das Land der toten Helden
Hunderttausende fordern im Winter 2014 den Machtwechsel in der Ukraine. Dann fallen Schüsse. Aktivisten blicken zurück auf den Maidan-Aufstand
An dem Morgen, an dem die Schüsse auf dem Maidan fielen, stellten ihre WG-Mitbewohnerinnen Anastasia Pustowa eine Tasse Kaffee neben ihren Laptop. Dann verließen sie am 20. Februar 2014 die Wohnung in Kiew und gingen auf den MaidanPlatz. Die Aktivistin organisierte am Rechner die Versorgung von Demonstranten auf dem Maidan mit allem, was auf dem Platz gebraucht wurde: Essen, heiße Getränke, warme Kleidung.
Viele Regierungsgegner aus allen Teilen des Landes harrten seit Ende 2013 in einer Zeltstadt bei Minustemperaturen in der Nacht auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt aus. Sie demonstrieren zunächst gegen die Entscheidung des damaligen Präsidenten Victor Janukowitsch, ein ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU platzen zu lassen. Der regierungskritische Journalist Mustafa Najjem hatte am 21. November auf Facebook zu ersten Demonstration auf dem Maidan aufgerufen.
Die Demonstranten forderten nach einem Einsatz von Spezialkräften mit vielen Verletzten am 30. November den Sturz des Präsidenten. Sie errichteten Küchen zu ihrer Versorgung und eigene Gesundheitszentren auf dem Maidan ein. Freiwillige wie Pustowa sammelten Spenden, kauften ein und managten die Verteilung von Gütern.
Der Bedarf auf dem Platz änderte sich nach dem 18. Februar 2014. Damals starben Dutzende bei Kämpfen mit Sicherheitskräften an den Barrikaden rund um den
Platz. Pustowa organisierte nun Schutzwesten für die an Barrikaden rund um den Maidan Wache schiebenden Demonstranten. Im Verlauf des 20. Februar ploppten immer mehr E-Mails von Aktivisten auf dem Platz auf. Aber sie forderten keine Westen mehr an, sondern Blutkonserven und Verbandsmaterial.
Pustowa war klar, dass etwas Schreckliches auf dem Platz passiert sein muss. Scharfschützen schossen am 20. Februar von umliegenden Gebäuden in die Menge auf dem Platz. 70 Menschen starben. Die Aktivistin bekam über ihrem Laptop gebeugt kaum mit, wie sich abends ihre Mitbewohnerinnen wieder in die Wohnung schlichen. Sie hatten überlebt. „Ich war mir sicher, dass das erst der Anfang von schlimmen Ereignissen für unser Land ist“, erinnert sie sich.
Der Krieg beginnt auf Korsika
Fast genau acht Jahre später wird Anastasia Pustowa im Urlaub auf Korsika am frühen Morgen des 24. Februar 2022 von einem im Wind klappernden Fensterladen geweckt. Sie habe einen unruhigen Schlaf gehabt, erzählt sie. Die Flucht aus dem ukrainischen Winter ans Mittelmeer war weniger erholsam als gedacht. „Wir haben am Ende nur Nachrichten vom russischen Truppenaufmarsch an unserer Grenze gelesen“, sagt sie.
Ihr Handy begann weniger Momente später zu vibrieren und hörte nicht mehr damit auf. Eine Nachricht nach der anderen trudelte bei ihr ein. „Ich ahnte, was das bedeutet. Die Russen sind einmarschiert“, sagt sie. Sie nahm sich noch einen Moment, um einfach im Dunkeln zu sitzen, bevor sie zum Handy griff. Ein letzter Moment im Frieden.
Mit ihrer Befürchtung, dass das Blutbad auf dem Maidan-Platz am 20. Februar 2014 ein Anfang und kein Ende gewesen ist, behielt Pustowa recht. Russland wertete den Sturz Janukowitschs als Putsch. Moskau fürchtete eine Ukraine, die den russischen Orbit verlässt. Es folgten noch 2014 die russische Annexion der Krim und der Beginn des Krieges mit den pro-russischen Separatisten in der Ostukraine. Der Krieg im Donbass schwelte auch nach mehreren Feuerpausen Jahr für Jahr weiter. Mehr als 13.000 Menschen starben. Am 24. Februar wurde mit dem russischen Einmarsch dann die ganze Ukraine zum Kriegsgebiet. Millionen mussten fliehen, nach Schätzungen sind bisher mehr als 100.000 Ukrainer gestorben.
Was hat sich in der Ukraine durch den Aufstand gegen Victor Janukowitsch geändert? War sein Sturz die vielen Toten seit 2014 wert?
Anastasia Pustowa überlegt sich ihre Antworten, während sie an einem kalten Wintertag über den Maidan-Platz läuft. Ein Feld mit blau-gelben Fahnen erinnert vor der Unabhängigkeitssäule an die Kriegstoten. Die Instytutska Straße führt an der Säule vorbei einen Hügel hoch zum Regierungsviertel. Die Kugeln töten hier am 20. Februar besonders viele Demonstranten. Die Straße wurde zur Falle. Kreuze und Fotos erinnern bis heute an die damals Erschossenen. Die Ukrainer nennen sie die „Himmlischen Hundert“. Pustowa atmet kurz durch. „Ich glaube, keiner von uns hat damals geahnt, dass wir so viele Opfer bringen müssen“, sagt sie.
Dann spricht die Aktivistin von einer ukrainischen Zivilgesellschaft, die unter
heftigen Geburtswehen auf dem MaidanPlatz entstanden sei. „Vor 2014 wurden Menschen, die sich für etwas engagieren, für verrückt gehalten. Heute kenne ich fast niemanden, der nicht in irgendeiner Initiative aktiv ist“, sagt sie.
Rauschhaftes Gefühl von Gemeinsamkeit
Sie habe sich vor dem Beginn der Proteste im November 2013 viele Jahre kaum mehr mit Politik beschäftigt, erzählt sie. Das war nicht immer so. Pustowa demonstrierte 2004 mit gerade 18 Jahre schon einmal auf dem Maidan-Platz während der sogenannten Orangenen Revolution für faire Wahlen in der Ukraine. Der Kandidat, dem damals Betrug vorgeworfen wurde, war Victor Janukowitsch. Er gewann 2010 die nach Reformen als ordnungsgemäß geltenden Präsidentschaftswahlen und errichtete nach russischem Vorbild eine auf ihn, seine Familie und Oligarchenfreunde zugeschnittene Machtvertikale. Pustowa war erst einmal fertig mit der Politik.
Was zog sie zehn Jahre später wieder auf den Maidan? Es sei das Staunen gewesen, sagt sie. Vor allem die Anhänger der Oppositionsparteien hätten an den orangenen Protesten im Winter 2004 und 2005 teilgenommen, erinnert sie sich. Zehn Jahre später liefen die Oppositionspolitiker dem Volk hinterher.
Die Aktivistin erinnert sich an die Freundlichkeit auf dem Platz. An Menschen, die anderen heißen Tee ausschenkten und Selbstgekochtes verteilten. Die Demonstranten organisierten sich ohne Zwang und hatten Spaß daran.
Das rauschhafte Gefühl von Gemeinsamkeit hat Pustowa nachhaltig geprägt. Sie hängte nach der Revolution ihren Job bei einer Werbeagentur an den Nagel. Die Aktivistin gründete eine NGO, die für eine Reform der Gesundheitsversorgung in der Ukraine kämpft. Sie nutzte nach dem 24. Februar 2022 ihr Netzwerk, um wie acht Jahre zuvor medizinische Güter zu organisieren. Damals wurden in Kliniken in umkämpften Region wie Kiew die Medikamente knapp. Pustowa kehrte drei Tage nach Kriegsausbruch in die Ukraine zurück.
Die Erfahrungen von Gemeinsinn und Selbstorganisation während der Revolution hätten die Ukraine stärker geprägt als der Sturz Janukowitschs selbst, ist sich Pustowa sicher. Viele von den Aktivisten ersehnte Reformen ließen nach dem Machtwechsel 2014 auf sich warten. Pustowa nahm 2021 wieder an Protesten teil. Damals attackierten rechte Schläger eine LGBT-freundliche Bar im Kiewer Szeneviertel Podil. Der Polizei wurde Untätigkeit vorgeworfen.
Auch diese Kundgebungen seien eine Folge der Maidan-Proteste gewesen, sagt Pustowa. Die Ukrainer akzeptierten Über
griffe auf ihre Rechte nicht mehr einfach. „Unter Janukowitsch haben wir die Rechtlosigkeit irgendwann als Teil des Lebens hingenommen. Die Korruption war so allgegenwärtig“, sagt sie. Aber auch ein vermeintlich bodenloses Fass an Duldsamkeit kann überlaufen.
Schlüsselerlebnis Fußball-EM
Die Demonstrationen gegen Janukowytsch wurden zum Massenphänomen, nachdem die Spezialtruppe Berkut Ende November Studenten durch die Innenstadt jagte und vor den Augen entsetzter Passanten zusammenschlug. Aus Zehntausenden Demonstranten auf dem Maidan wurden im Dezember 2013 Hunderttausende. Jetzt forderten sie Janukowitschs Sturz. „Viele waren nach dem 30. November empört, wie sie das wagen können. Ich fühlte mich in meiner Würde verletzt“, sagt Pustowa.
Nicht nur Pustowa scheint das so empfunden zu haben. Die Ukrainer bezeichnen den Aufstand gegen Janukowitsch heute als „Revolution der Würde“.
Dabei stand am Anfang der Proteste der Streit um ein zwischen der Regierung in Kiew und EU-Bürokraten ausgehandeltes Dokument. Janukowitschs überraschender Rückzug vom unterschriftsreifen Assoziierungsabkommen mit der EU stellte die Ukrainer vor die Frage, welchen Weg sie
einschlagen wollten, nach Westen oder nach Osten.
Anastasia Pustowa glaubt, dass ausgerechnet Victor Janukowitsch mit einem Prestigeobjekt den Ukrainern half, schon vor den Protesten auf dem Maidan für sich eine Antwort zu finden. Janukowitsch holte 2012 die Fußball-Europameisterschaft in die Ukraine. Touristen aus verschiedenen Ländern Europas strömten nach Kiew und in andere Städte der Ukraine. „Viele Ukrainer sind zum ersten Mal Westeuropäern begegnet und haben mit ihnen gefeiert. Sie haben viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Und ich glaube, was sie gesehen haben, hat ihnen gefallen“, sagt Pustowa. Nur ein Jahr später goss Janukowitsch mit seinem Rückzug vom Assoziierungsabkommen mit der EU kaltes Wasser auf die im Fußballfieber erwachte Europa-Euphorie. Er scheint nicht erwartet zu haben, was ihm daraus erwächst.
Die Ukrainer hätten seit dem Maidan nicht aufgehört, sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen, sagt die Aktivistin. Sie seien seit zehn Jahren dabei, das Wesen ihres Landes unter dicken Krusten der Fremdherrschaft auszugraben. Die westlichen und östlichen Nachbarn hatten die Ukraine über Jahrhunderte unter sich aufgeteilt. Dann eroberte Russland im 18. Jahrhundert das ganze Territorium. Und alles begann mit einem Facebook-Post.
Die Erfahrungen von Gemeinsinn und Selbstorganisation während der Revolution haben die Ukraine stärker geprägt als der Sturz Janukowitschs selbst. Anastasia Pustowa, Ukrainische Friedensaktivistin