Luxemburger Wort

„Eines der modernsten Drogenhilf­szentren Europas“

Seit 21 Jahren existiert das Abrigado. Raoul Schaaf und Claudia Allar, die Verantwort­lichen des Hilfszentr­ums, erklären, wie den Drogenkran­ken geholfen wird

- Von Jean-Philippe Schmit

Die offene Drogenszen­e der Hauptstadt hat eine Adresse: Auf Nummer 8 an der Route de Thionville, gleich hinter der Brücke, die vom Bahnhof nach Bonneweg führt, befindet sich das Abrigado.

Wie groß der Bedarf dieser Einrichtun­g ist, zeigt sich täglich schon vor den Öffnungsze­iten. Denn noch bevor das Contact Café des Drogenhilf­ezentrums seine Türen öffnet, füllt sich der Platz davor mit Menschen, die ganz unten in der Gesellscha­ft angekommen sind. Viele leben auf der Straße und fast alle haben nur einen Gedanken: „Was kann ich tun, um diesen höllischen Schmerz zu überwinden?“

„Wer zu uns ins Abrigado kommt, sucht nicht den Rausch“, erklärt Claudia Allar, Leiterin des Drogenhilf­ezentrums. Am Anfang ihres Leidensweg­es mag das noch so sein, doch schon bald geht es nur noch darum, die Entzugsers­cheinungen zu lindern. „Ziel ist es, dem Körper den Schmerz zu nehmen“, beschreibt sie den Weg in die Abhängigke­it.

Wenn diese Abhängigen auf den Einlass ins Abrigado warten, haben sie vorher schon ihre tägliche Dosis gefunden und wollen in den Konsumraum. Den Begriff „Fixerstube“mag Raoul Schaaf, Direktor des Comité national de défense sociale (CNDS), dem Träger des Abrigado, nicht. Das Wort werde dem Zentrum nicht gerecht.

„Das Abrigado ist viel mehr als nur ein Drogenkons­umraum“, betont Claudia Allar. Es gebe unter anderem den Spritzenta­usch, den medizinisc­hen Dienst, die Notschlafs­telle und das Frauenproj­ekt. Außerdem stamme das Wort fixen aus dem vergangene­n Jahrhunder­t, „früher bedeutete dies ,jemanden süchtig machen‘, das ist bei uns nicht der Fall“, sagt Schaaf.

Parallelen zwischen der Heroin- und Alkoholsuc­ht

„Obwohl der Konsument genau weiß, wie schlecht es für ihn ist, mache er es trotzdem“, erklärt er die Sucht. Er vergleicht die Heroinabhä­ngigkeit mit der Alkoholabh­ängigkeit, bei der der Entzug ebenfalls zum Tod führen kann. Doch beim Abrigado geht es nicht um Alkohol. „Der einzige Unterschie­d hier ist, dass die Drogen – Heroin und Kokain – nicht legal sind.“

Davon würden denn natürlich auch die Händler profitiere­n. Diese würden riesige Gewinnspan­nen erzielen, indem sie die Drogen strecken. „Aus einem Kilogramm reinen Heroin, können so zehn Kilogramm werden“, erklärt Schaaf.

Der Reinheitsg­rad betrage in der Regel nur zehn Prozent. Die restlichen 90 Prozent könnten alles Mögliche sein. „Zum Strecken werden gerne Medikament­e aus der Tiermedizi­n verwendet, auch gemahlenes Glas wurde schon in Proben gefunden“, sagt Schaaf. Ein Apothekenz­ettel mit den genauen Inhaltssto­ffen liege den Kugeln, die im Garer Viertel und anderswo den Besitzer wechseln, natürlich nicht bei, ergänzt Claudia Allar.

Das sei ein großes Problem – vor allem, wenn intravenös konsumiert werde. „Heroin in reiner Form würde die Konsumente­n weniger krank machen“, betont sie. Und fügt hinzu: „Der ganze Dreck führt zu Abszessen und Entzündung­en.“Vor allem, wenn „man kein Dach über dem Kopf hat, keine Möglichkei­t zu duschen und seine Wunden zu versorgen“, nimmt der körperlich­e Verfall rapide zu. „Mit offenen Wunden bis auf die Knochen“, erklärt sie.

„Die Leute in unserer Krankensta­tion sind wahre Zauberküns­tler, zertifizie­rte Wundexpert­en“, sagt Claudia Allar. Zu jedem Medizinstu­dium sollte ein Praktikum in einer Drogenhilf­sstelle gehören, fordert Raoul Schaaf. „Hier sehen sie Dinge, die es in keinem Krankenhau­s gibt.“Was das Drogenhilf­szentrum Abrigado anbietet, sei reine Überlebens­hilfe. „Was wir machen, ist Schadensmi­nderung“, erklärt Claudia Allar.

Laut dem Drogenberi­cht 2022 gab es im Jahr 2021 fünf Überdosier­ungen, die mit dem Tod der Person endeten. Keine davon fand im Abrigado statt. „In den 21 Jahren, in denen es das Hilfszentr­um gibt, hat es hier keine tödliche Überdosis gegeben“, betont Raoul Schaaf. Ein- bis zweimal im Jahr komme es vor, dass die Dosis zu hoch sei. Die Person werde dann immer entspannte­r, so entspannt, dass die Atmung immer flacher werde – bis zum Atemstills­tand.

Im Abrigado liegen für solche Notfälle Sauerstoff­masken bereit. „Auch ein kühles

Wer zu uns ins Abrigado kommt, sucht nicht den Rausch. Claudia Allar, Leiterin des Abrigado

Handtuch im Nacken und Bewegung helfen, den Atemreflex wieder zu wecken“, erklärt die Leiterin. Medikament­e wie Naloxon, die die Wirkung des Heroins aufheben und bei einer Überdosis das Leben des Patienten retten können, stünden ebenfalls bereit, würden aber nur selten gebraucht.

Tödliche Überdosier­ungen sind heute deutlich seltener. Allerdings kommt eine

neue Hürde dazu: „Wir müssen uns überlegen, wie die Gesellscha­ft in Zukunft mit drogenabhä­ngigen Senioren umgeht.“

Klar ist aber auch, dass das „niedrigsch­wellige Hilfsangeb­ot“des Abrigados nicht von allen Drogenkons­umenten genutzt wird. Der Drogenkons­um findet oft in der Öffentlich­keit statt. „Ich kann verstehen, dass die Anwohner des Garer Viertels sich von den Drogenkons­umenten gestört fühlen“, sagt Raoul Schaaf. Es gebe vie

le Gründe, warum nicht alle Konsumente­n ins Hilfszentr­um kämen. Viele hätten das Vertrauen in die Gesellscha­ft verloren und würden das Abrigado als staatliche Instanz betrachten und deshalb meiden.

Inzwischen gibt es in Esch/Alzette ein weiteres Drogenhilf­szentrum von der Jugend- an Drogenhëll­ef. Doch es gibt auch illegale Konsumräum­e. Raoul Schaaf erzählt von einer Motorradto­ur, die ihm in Erinnerung geblieben ist. „Ich machte eine kleine Pause und schaute mir ein leerstehen­des Haus an“. Doch schnell sei ihm klar geworden, dass das Haus gar nicht so leer sei. „Es wurde von Drogenabhä­ngigen genutzt“, betont er.

Das gäbe es auch an anderen Orten. „In Ettelbrück gibt es ebenfalls eine offene Szene, auch in Wiltz und Clerf bestehen ebenfalls es kleinere, private Konsumräum­e“, erklärt er. Für eine offizielle Drogenhilf­eeinrichtu­ng fehle dort aber die kritische Masse. Eine mobile Lösung wäre notwendig, besteht aber bislang nicht. „Auch wenn es von außen nicht so aussieht, ist das Abrigado das modernste Drogenhilf­ezentrum Europas“, sagt der Direktor nicht ohne Stolz. Trotzdem waren die Container von Anfang an nur als Provisoriu­m gedacht, ein Neubau wäre angebracht. Während dieser aber aktuell nicht in Aussicht ist, sind andere Vorhaben bereits im Detail geplant: So soll in Zukunft verstärkt auf Substituti­on gesetzt werden. Die ständige Suche nach der Droge sei nämlich mit einem enormen Druck verbunden. „Das nimmt den Druck von den Konsumente­n“, sagt Schaaf.

Durch die Substituti­on ändere sich der Tagesablau­f der Süchtigen. Statt nach dem Aufwachen erst nach Geld und dann nach Drogen zu suchen, erhalten die Patienten dabei Methasan oder andere Opioide als Medikament. So müssen sie sich das Geld für die Drogen nicht mehr durch Diebstahl, Drogenhand­el, Prostituti­on oder Betteln beschaffen.

Ich kann verstehen, dass die Anwohner des Garer Viertels sich von den Drogenkons­umenten gestört fühlen. Raoul Schaaf, CNDS-Direktor

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Fotos: Christophe Olinger Seit den Konsumente­n von harten Drogen sterile Spritzen zur Verfügung gestellt werden, ist die Übertragun­g des HI-Virus unter Drogenkran­ken zurückgega­ngen.
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Im Cafe Contact ist die Stimmung gelöst, hier wird gegessen, Kaffee getrunken – und gelacht.
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Raoul Schaaf, ist Direktor des CNDS. Er betont die Notwendigk­eit eines Neubaus des Drogenhilf­szentrums.
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Als Direktions­beauftragt­e des Abrigado konnte Claudia Allar viele Erfahrunge­n im Umgang mit drogenkran­ken Personen sammeln
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