„Eines der modernsten Drogenhilfszentren Europas“
Seit 21 Jahren existiert das Abrigado. Raoul Schaaf und Claudia Allar, die Verantwortlichen des Hilfszentrums, erklären, wie den Drogenkranken geholfen wird
Die offene Drogenszene der Hauptstadt hat eine Adresse: Auf Nummer 8 an der Route de Thionville, gleich hinter der Brücke, die vom Bahnhof nach Bonneweg führt, befindet sich das Abrigado.
Wie groß der Bedarf dieser Einrichtung ist, zeigt sich täglich schon vor den Öffnungszeiten. Denn noch bevor das Contact Café des Drogenhilfezentrums seine Türen öffnet, füllt sich der Platz davor mit Menschen, die ganz unten in der Gesellschaft angekommen sind. Viele leben auf der Straße und fast alle haben nur einen Gedanken: „Was kann ich tun, um diesen höllischen Schmerz zu überwinden?“
„Wer zu uns ins Abrigado kommt, sucht nicht den Rausch“, erklärt Claudia Allar, Leiterin des Drogenhilfezentrums. Am Anfang ihres Leidensweges mag das noch so sein, doch schon bald geht es nur noch darum, die Entzugserscheinungen zu lindern. „Ziel ist es, dem Körper den Schmerz zu nehmen“, beschreibt sie den Weg in die Abhängigkeit.
Wenn diese Abhängigen auf den Einlass ins Abrigado warten, haben sie vorher schon ihre tägliche Dosis gefunden und wollen in den Konsumraum. Den Begriff „Fixerstube“mag Raoul Schaaf, Direktor des Comité national de défense sociale (CNDS), dem Träger des Abrigado, nicht. Das Wort werde dem Zentrum nicht gerecht.
„Das Abrigado ist viel mehr als nur ein Drogenkonsumraum“, betont Claudia Allar. Es gebe unter anderem den Spritzentausch, den medizinischen Dienst, die Notschlafstelle und das Frauenprojekt. Außerdem stamme das Wort fixen aus dem vergangenen Jahrhundert, „früher bedeutete dies ,jemanden süchtig machen‘, das ist bei uns nicht der Fall“, sagt Schaaf.
Parallelen zwischen der Heroin- und Alkoholsucht
„Obwohl der Konsument genau weiß, wie schlecht es für ihn ist, mache er es trotzdem“, erklärt er die Sucht. Er vergleicht die Heroinabhängigkeit mit der Alkoholabhängigkeit, bei der der Entzug ebenfalls zum Tod führen kann. Doch beim Abrigado geht es nicht um Alkohol. „Der einzige Unterschied hier ist, dass die Drogen – Heroin und Kokain – nicht legal sind.“
Davon würden denn natürlich auch die Händler profitieren. Diese würden riesige Gewinnspannen erzielen, indem sie die Drogen strecken. „Aus einem Kilogramm reinen Heroin, können so zehn Kilogramm werden“, erklärt Schaaf.
Der Reinheitsgrad betrage in der Regel nur zehn Prozent. Die restlichen 90 Prozent könnten alles Mögliche sein. „Zum Strecken werden gerne Medikamente aus der Tiermedizin verwendet, auch gemahlenes Glas wurde schon in Proben gefunden“, sagt Schaaf. Ein Apothekenzettel mit den genauen Inhaltsstoffen liege den Kugeln, die im Garer Viertel und anderswo den Besitzer wechseln, natürlich nicht bei, ergänzt Claudia Allar.
Das sei ein großes Problem – vor allem, wenn intravenös konsumiert werde. „Heroin in reiner Form würde die Konsumenten weniger krank machen“, betont sie. Und fügt hinzu: „Der ganze Dreck führt zu Abszessen und Entzündungen.“Vor allem, wenn „man kein Dach über dem Kopf hat, keine Möglichkeit zu duschen und seine Wunden zu versorgen“, nimmt der körperliche Verfall rapide zu. „Mit offenen Wunden bis auf die Knochen“, erklärt sie.
„Die Leute in unserer Krankenstation sind wahre Zauberkünstler, zertifizierte Wundexperten“, sagt Claudia Allar. Zu jedem Medizinstudium sollte ein Praktikum in einer Drogenhilfsstelle gehören, fordert Raoul Schaaf. „Hier sehen sie Dinge, die es in keinem Krankenhaus gibt.“Was das Drogenhilfszentrum Abrigado anbietet, sei reine Überlebenshilfe. „Was wir machen, ist Schadensminderung“, erklärt Claudia Allar.
Laut dem Drogenbericht 2022 gab es im Jahr 2021 fünf Überdosierungen, die mit dem Tod der Person endeten. Keine davon fand im Abrigado statt. „In den 21 Jahren, in denen es das Hilfszentrum gibt, hat es hier keine tödliche Überdosis gegeben“, betont Raoul Schaaf. Ein- bis zweimal im Jahr komme es vor, dass die Dosis zu hoch sei. Die Person werde dann immer entspannter, so entspannt, dass die Atmung immer flacher werde – bis zum Atemstillstand.
Im Abrigado liegen für solche Notfälle Sauerstoffmasken bereit. „Auch ein kühles
Wer zu uns ins Abrigado kommt, sucht nicht den Rausch. Claudia Allar, Leiterin des Abrigado
Handtuch im Nacken und Bewegung helfen, den Atemreflex wieder zu wecken“, erklärt die Leiterin. Medikamente wie Naloxon, die die Wirkung des Heroins aufheben und bei einer Überdosis das Leben des Patienten retten können, stünden ebenfalls bereit, würden aber nur selten gebraucht.
Tödliche Überdosierungen sind heute deutlich seltener. Allerdings kommt eine
neue Hürde dazu: „Wir müssen uns überlegen, wie die Gesellschaft in Zukunft mit drogenabhängigen Senioren umgeht.“
Klar ist aber auch, dass das „niedrigschwellige Hilfsangebot“des Abrigados nicht von allen Drogenkonsumenten genutzt wird. Der Drogenkonsum findet oft in der Öffentlichkeit statt. „Ich kann verstehen, dass die Anwohner des Garer Viertels sich von den Drogenkonsumenten gestört fühlen“, sagt Raoul Schaaf. Es gebe vie
le Gründe, warum nicht alle Konsumenten ins Hilfszentrum kämen. Viele hätten das Vertrauen in die Gesellschaft verloren und würden das Abrigado als staatliche Instanz betrachten und deshalb meiden.
Inzwischen gibt es in Esch/Alzette ein weiteres Drogenhilfszentrum von der Jugend- an Drogenhëllef. Doch es gibt auch illegale Konsumräume. Raoul Schaaf erzählt von einer Motorradtour, die ihm in Erinnerung geblieben ist. „Ich machte eine kleine Pause und schaute mir ein leerstehendes Haus an“. Doch schnell sei ihm klar geworden, dass das Haus gar nicht so leer sei. „Es wurde von Drogenabhängigen genutzt“, betont er.
Das gäbe es auch an anderen Orten. „In Ettelbrück gibt es ebenfalls eine offene Szene, auch in Wiltz und Clerf bestehen ebenfalls es kleinere, private Konsumräume“, erklärt er. Für eine offizielle Drogenhilfeeinrichtung fehle dort aber die kritische Masse. Eine mobile Lösung wäre notwendig, besteht aber bislang nicht. „Auch wenn es von außen nicht so aussieht, ist das Abrigado das modernste Drogenhilfezentrum Europas“, sagt der Direktor nicht ohne Stolz. Trotzdem waren die Container von Anfang an nur als Provisorium gedacht, ein Neubau wäre angebracht. Während dieser aber aktuell nicht in Aussicht ist, sind andere Vorhaben bereits im Detail geplant: So soll in Zukunft verstärkt auf Substitution gesetzt werden. Die ständige Suche nach der Droge sei nämlich mit einem enormen Druck verbunden. „Das nimmt den Druck von den Konsumenten“, sagt Schaaf.
Durch die Substitution ändere sich der Tagesablauf der Süchtigen. Statt nach dem Aufwachen erst nach Geld und dann nach Drogen zu suchen, erhalten die Patienten dabei Methasan oder andere Opioide als Medikament. So müssen sie sich das Geld für die Drogen nicht mehr durch Diebstahl, Drogenhandel, Prostitution oder Betteln beschaffen.
Ich kann verstehen, dass die Anwohner des Garer Viertels sich von den Drogenkonsumenten gestört fühlen. Raoul Schaaf, CNDS-Direktor