Es war einmal ... der Bommeleeër
Vor 40 Jahren begannen die Vorbereitungen für eine Anschlagsserie, die bis heute die Justiz beschäftigt
Die 1980er-Jahre liegen in vielerlei Hinsicht weit zurück. Wer heute verstehen will, wie eine Tätergruppe tickte, die offenbar aus dem Herzen des Staatsapparates heraus das Land verändern wollte und dabei Angst als Mittel zum Zweck nutzte, kann dies nicht allein aus heutiger Perspektive tun.
Es braucht einen historischen Kontext. Es braucht aber auch einen Blick aus der mutmaßlichen Perspektive der Täter. Und gemeinsam mit den Erkenntnissen aus dem Prozess in den Jahren 2013 und 2014 ergibt sich ein nachvollziehbares Bild. Inwieweit dieses Bild dann auch die tatsächlichen Motive der Beteiligten widerspiegelt, bleibt offen. Denn um Verständnis für das damalige Geschehen hat sich bisher keiner der Beteiligten bemüht.
„Années de plomb“auch in Luxemburg
Der Kontext scheint jedoch ziemlich klar zu sein, wenn man die Richtung betrachtet, in die sich die Ermittlungen entwickelt haben. Es sind auch in Luxemburg die „bleiernen Jahre“– ein Begriff, der sich in Europa vor allem auf eine Periode politischer Gewalt im 20. Jahrhundert bezieht. In Deutschland sind es eher die 1970er, in Belgien, Frankreich und Luxemburg die 1980er-Jahre.
Auch wenn das Großherzogtum von einem bipolaren, politischen Terrorismus, sei es von rechts oder von links, verschont blieb, war es auch hierzulande keine ruhige Zeit. Ereignisse und Sicherheitslagen in den Nachbarländern verunsicherten auch das Großherzogtum. Zudem – und das zeigt ein Blick in die Zeitungen Anfang der 1980er-Jahre auf erschreckende Weise – gab es in Luxemburg wöchentlich Überfälle auf Tankstellen, Zeitungsläden, Postämter und Banken. Dabei war die berüchtigte „Waldbilliger Bande“nur eine von mehreren Tätergruppen, die aus dem In- und Ausland operierten – wenn auch mit sechs Toten sicher die blutigste.
Die Sicherheitskräfte wirken bei alledem wie Statisten. Gendarmerie und Polizei sind stark unterbesetzt, schlecht ausgerüstet und ausgebildet und damit den Tätern bei ihren Raubzügen in vielerlei Hinsicht unterlegen. Blickt man nun mit dem Abstand von Jahrzehnten auf diese Zeit zurück und bezieht die Erkenntnisse aus dem bisherigen Bommeleeër-Prozess mit ein, so wird deutlich, dass dies der Nährboden für die Luxemburger Anschlagsserie gewesen sein muss.
Das Täterbild schärft sich
Und wenn man dann noch weiß, dass die Spur der Täter nach jahrzehntelanger Ermittlungsarbeit zur Eliteeinheit Brigade Mobile der Gendarmerie führt, dann ergibt sich ein doch ziemlich scharfes Bild: Eine kleine Tätergruppe aus dem unmittelbaren Umfeld einer für ihr cowboyhaftes Auftreten bekannten Spezialeinheit der Sicherheitskräfte versucht, die Schieflage zwischen Rechtsstaat und Kriminalität wieder auszugleichen.
Es ist ein hehres Ziel, das letztlich aber mit Mitteln des Terrors und der Angst durchgesetzt wird: Ihnen ist es nämlich am Ende auch zu verdanken, dass Polizei und Gendarmerie sich nach jahrelangem Stillstand zu modernen Sicherheitsbehörden weiterentwickeln können.
Für viele Menschen bleibt diese Realität unbefriedigend. Das liegt in der Natur der menschlichen Psyche. Der Gedanke, dass es eine einfache und rationale Erklärung dafür gibt, dass die Täter unbehelligt und bis heute ohne eine einzige Verurteilung handeln konnten, ist unbefriedigend. Der Gedanke, dass einflussreiche Personen, „déi Déck“oder „een Décken“oder „Fissën vu Ministeren“oder „de schwarze Prënz“dahinterstecken und geschützt werden müssen, ist schon viel befriedigender. Und noch besser fühlt es sich an, wenn alle Verschwörungstheorien zusammenkommen und Aufklärung deswegen unmöglich erscheint.
Der psychologische Mechanismus dahinter ist die kognitive Dissonanz. Sie tritt auf, wenn eine Person gleichzeitig wider
sprüchliche Gedanken, Überzeugungen oder Wahrnehmungen hat. Dies führt zu Schwierigkeiten, einfache Erklärungen für komplexe und manchmal bedrohliche Sachverhalte zu akzeptieren. Dies ebnet den Weg für alternative Erklärungen, die sich eben zu Verschwörungstheorien und tief verwurzelten Mythen entwickeln.
Der Bommeleeër-Prozess hat diese weitestgehend als solche entlarvt. Geblieben ist das Bild einer kleinen Gruppe von Tätern, die Großes verändern wollte und sich zu diesem Zweck vor 40 Jahren, im Januar 1984, im Untergrund auf ihren Kampf vorzubereiten begann.
Das Pokerspiel der Bommeleeër
Im Großherzogtum wird zu dieser Zeit noch in zahlreichen, schlecht gegen Diebstahl gesicherten Steinbrüchen gearbeitet. So beschaffen sich die Täter innerhalb weniger Monate große Mengen an Industriesprengstoff. Es folgen Probesprengungen, dann beginnt die Umsetzung des Plans: Unter dem Deckmantel der Erpressung der Cegedel werden Hochspannungsmasten gesprengt. Je mehr Sprengungen durchgeführt werden, desto mehr offenbaren die Täter auch in den heute bekannten Erpresserbriefen ihr eigentliches Ziel: die Unfähigkeit des Rechtsstaates öffentlich vorzuführen. „De Bommeleeër“wird zum Schreckgespenst der Nation.
Irgendwann – der Prozess hat die völlige Wesensveränderung nach dem Anschlag auf den Justizpalast im Oktober 1985 deutlich gemacht – muss der Gendarmerieführung klargeworden sein, dass die Täter aus den eigenen Reihen stammen. Dies gilt es fortan zu vertuschen. Denn wäre es damals an die Öffentlichkeit gelangt, hätte dies das sichere Ende der Gendarmerie bedeutet. Alles, was in den folgenden 15 Jahren in diesem Dossier passiert, dient der Verschleierung.
Verhängnisvolle Worte
Anfang der 2000er-Jahre werden die Ermittlungen neu aufgenommen, die Spur zur Spezialeinheit BMG wird heiß und das Verhör von zwei ehemaligen Mitgliedern bringt eine Lawine ins Rollen, die schließlich 2013 in einen Prozess mündet: „[Et waren] de Jos an ech!“– „Dunn hu mer se [d‘Bomm] dohinner geluecht a si gaangen.“
Es sind die einzigen Worte, die als Geständnis von Tätern interpretiert werden können. Danach gibt es nur noch Schweigen und Erinnerungslücken, bei denen, die mehr zum Bommeleeër wissen. Und dieser Damm ist bis heute nicht gebrochen.
Die weitere Entwicklung ist noch völlig offen. Konkrete Beweise für eine Schuld liegen nach wie vor gegen keinen der Verdächtigen vor. Diese Woche hat die Ratskammer nun acht Beschuldigte wegen Falschaussage und/oder Behinderung der Justiz vor ein Strafgericht zitiert. Währenddessen bleiben die beiden Ex-BMG-Mitglieder, die seit unglaublichen 16 Jahren angeklagt sind, in der Zuständigkeit einer Kriminalkammer. Gegen einen weiteren Angeklagten wurde das Verfahren eingestellt.
Diese Entscheidungen der Ratskammer werden von den Betroffenen mit Sicherheit vor einem Berufungsgericht angefochten. Und ganz klar: Die Richter der zweiten Instanz können völlig anders entscheiden als die Richter der ersten Instanz.
Bleibt die Entscheidung aber gleich, muss auch das Verfahren gegen die ersten beiden Angeklagten in der einen oder anderen Form fortgesetzt oder abgeschlossen werden.