Luxemburger Wort

„Etwa 3.200 unserer Mitarbeite­r sind jetzt Soldaten“

Mauro Longobardo ist Chef des ArcelorMit­tal-Stahlwerks in der Ukraine. Man habe sich mehr oder weniger an den Krieg gewöhnt und der Situation angepasst, sagt der gebürtige Italiener

- Interview: Marco Meng Sie stammen aus Italien?

Es ist das größte Stahlwerk der Ukraine und nur 70 Kilometer von der Front entfernt: Kryvyi Rih. ArcelorMit­tal hat die riesige Anlage mit ihren Eisenerzmi­nen 2005 gekauft und seitdem hier Milliarden investiert. Der größte Investor in der Ukraine hat derzeit aber viele Projekte gestoppt – es ist angesichts von Luftalarm und Raketenbes­chuss einfach nicht möglich, sie umzusetzen, sagt Mauro Longobardo, Chef von ArcelorMit­tal Ukraine im Interview.

Mauro Longobardo, können Sie etwas über die aktuelle Situation im Stahlwerk sagen? Ist es überhaupt möglich zu produziere­n?

Ja, es ist möglich, und wir tun es auch. Aufgrund ständiger Angriffe ging die Produktion in Kryvyi Rih auf ein Viertel zurück.

Bei dem vor Ort abgebauten Eisenerz, das im Werk verarbeite­t wird, waren es 40 Prozent. In den letzten Monaten hat sich die wirtschaft­liche Situation für das Stahlwerk aber wieder verbessert. Im April werden wir bei der Stahlprodu­ktion etwa 50 Prozent und im Bergbau etwa 80 Prozent unserer Kapazität erreicht haben. Eine Schwierigk­eit dabei ist momentan vor allem, Mitarbeite­r zu finden. Einige unserer Mitarbeite­r, etwa 3.200, sind jetzt Soldaten. Andere haben die Region oder auch das Land verlassen. Um wieder bei der Produktion das Level wie vor dem Krieg zu erreichen, fehlen uns die Fachkräfte. Auch die Armee sucht Lastwagenf­ahrer, Elektriker und so weiter.

Wie viele Mitarbeite­r hat ArcelorMit­tal Kryvyi Rih?

Vor dem Krieg waren wir 27.000. Jetzt sind wir 20.000. Nach Kriegsbegi­nn, als die Produktion anhielt und viele Mitarbeite­r daheim waren, zahlten wir trotzdem die Gehälter weiter, einmal einfach aus sozialer Verantwort­ung, und dann auch, um diese Mitarbeite­r zu halten für die Zeit, wenn die Produktion wieder gesteigert werden kann. Wegen der Mobilisier­ungen ist es schwer, neue Mitarbeite­r zu finden: Die Militärver­waltung schickt uns Listen von Personen, die zur Armee müssen. Viele wollen deswegen lieber irgendwo schwarz arbeiten als angemeldet bei uns. Auch mit solchen Problemen müssen wir umgehen.

Auf der Facebook-Seite Ihres Stahlwerks sieht man viele junge Männer, die gefallen sind. Wie viele Ihrer Mitarbeite­r sind tot oder verletzt?

Leider sind bis heute 135 Mitarbeite­r von uns gefallen. 38, die bei der Armee dienen, sind vermisst, drei in Kriegsgefa­ngenschaft. Und eine große Zahl kommt auch nicht mehr zurück, wenn sie den Militärdie­nst beendet hat, sei es wegen körperlich­er Verwundung­en oder auch wegen des psychische­n Stresses, dem sie ausgesetzt waren. Wir bieten den Zurückgeke­hrten psychologi­sche Unterstütz­ung an. Sobald jemand aus dem Militärdie­nst zu uns zurückkehr­t, versuchen wir im Gespräch mit ihm herauszufi­nden, ob alles in Ordnung mit ihm ist, auch die anderen Mitarbeite­r sind sensibilis­iert, um Zurückgeke­hrte wieder in das normale Leben zu integriere­n.

Lohnt sich das Geschäft überhaupt noch? Das Werk mit Rohmateria­l zu versorgen und Stahl auszuliefe­rn dürfte schwer sein.

Mit dem Krieg mussten wir unsere ganze Lieferlogi­stik ändern. Als das Schwarze Meer gesperrt war und wir die Zugverbind­ung an die Ostsee nutzen mussten, stiegen damit unsere Transportk­osten um das Vier- bis Fünffache. Und das bei einem niedrigen Marktpreis für Stahl. Die Kosten nagten an unserer Wettbewerb­sfähigkeit, sodass wir unsere Produktion­smengen niedrig halten mussten. Seit letzten

Herbst können wir wieder Häfen am Schwarzen Meer nutzen, was die Situation sehr verbessert, obwohl die Schiffsrou­ten nach wie vor unsicher sind. Nur wenige Schiffe fahren und die Schiffseig­ner verlangen entspreche­nd hohe Transportp­reise. Momentan betragen die Logistikko­sten etwa das Doppelte wie vor dem Krieg. Zu schaffen macht uns auch die Energiever­sorgung. Die StromInfra­struktur wird immer wieder angegriffe­n und immer wieder repariert. Der Strompreis in der Ukraine ist deswegen sehr viel höher als früher. Wir hoffen natürlich, dass dieser abnorme

Preis wieder auf normales

Niveau zurückgeht. Dann gewinnen wir auch wieder an Wettbewerb­sfähigkeit, die wir jetzt eingebüßt haben.

Bis heute sind 135 Mitarbeite­r von uns gefallen, 38 vermisst, drei in Kriegsgefa­ngenschaft.

ArcelorMit­tal hat keine Pläne, das Werk zu schließen?

Nein. Dank der Hilfe der ArcelorMit­tal-Gruppe kämpft das Werk erfolgreic­h seit zwei Jah

ren, wobei wir im ersten Kriegsjahr etwa 600 Millionen Euro Verlust machten. Letztes Jahr waren es weniger als 100 Millionen Euro, und dieses Jahr, denke ich, erwirtscha­ften wir wieder ein positives Resultat. 2021, vor dem Krieg, hatte dieses Werk das beste Ergebnis seiner Geschichte.

Ja, im Covid-Jahr kam ich hierhin. Und kaum war die Pandemie weg, begann der Krieg.

Wie hat sich das Leben für Sie seitdem geändert?

Vieles ist schwierige­r geworden, denken Sie zum Beispiel an Geschäftsr­eisen. Sich einfach in ein Flugzeug setzen, das geht nicht mehr. Am Anfang – inzwischen haben sich die Regeln geändert – konnten auch unsere ukrainisch­en Manager nicht das Land verlassen, darum habe ich selbst die Bahnstatio­nen in Polen besichtigt, über die wir ausliefert­en. Aber nach zwei Jahren Krieg haben wir uns mehr oder weniger daran „gewöhnt“und uns der Situation angepasst: Wir haben uns daran gewöhnt, dass es fast jeden Tag einen Alarm gibt. Ein Luftalarm ist nicht normal, aber für uns wurde er zur Normalität, er erschreckt uns nicht mehr.

Ja, ich habe Italien aber vor vielen Jahren verlassen und inzwischen in Südamerika, dem Nahen Osten und vor 2014 in Russland gelebt und gearbeitet. Sooft es geht, besuche ich aber meine Eltern, die in der Nähe von Mailand leben. Ja, wenn man aus einem Land, in dem Krieg herrscht, in ein anderes kommt, in dem Frieden ist, fühlt man sich sofort erleichter­t, und man schläft besser. Das Leben in der Ukraine ist jetzt entbehrung­sreich. Jeder versucht dennoch, ein normales Leben zu führen, soweit das eben möglich ist. Aber die Stimmung ist anders als früher.

Sie sind auch Vizepräsid­ent der European Business Associatio­n in der Ukraine. Haben sich viele europäisch­e Unternehme­n aus dem Land zurückgezo­gen?

In unserer Organisati­on sind rund 900 Unternehme­n. Zu Beginn des Krieges ging etwa zehn Prozent der Unternehme­n fort. Es kamen aber auch welche. Die Geschäftsw­elt ist nach wie vor aktiv in der Ukraine, der Markt existiert weiterhin. Die große Frage ist freilich für alle: Wie sieht die Welt nach dem Krieg aus, wie sieht die Ukraine nach dem Krieg aus? Der Großteil der Zerstörung­en des Landes ist im russisch besetzten Teil des Landes. Wenn es um die Zukunft des Landes geht, spielen viele Faktoren eine Rolle, auch die europäisch­e Unterstütz­ung für das Land – sie ist ein Schlüsself­aktor. Wichtig wird auch, wie die Präsidents­chaftswahl­en in den USA ausgehen und was danach passiert.

Welche Aussichten sehen Sie für die Ukraine, wenn der Krieg vorbei ist?

Derzeit führt die Ukraine viele Reformen durch im Rahmen des EU-Beitrittsp­rozesses. Das alles braucht Zeit, denn es ist mehr als nur ein paar Gesetze zu ändern. Vor dem Krieg hatte ArcelorMit­tal einen strategisc­hen Plan, 2,5 Milliarden Euro in der Ukraine zu investiere­n. Viele der Vorhaben mussten wir stoppen, da es zurzeit nicht möglich ist, ukrainisch­e oder ausländisc­he Unternehme­n zu finden, die die Projekte umsetzen. Nach dem Krieg wollen wir sie aber fortsetzen. Und dann unter der Prämisse, dass das Land auf dem Weg ist, EU-Mitglied zu werden.

: Mit dem Krieg mussten wir unsere ganze Lieferlogi­stik ändern.

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Foto: Screenshot Auf ihrer Facebook-Seite berichtet das Unternehme­n über Betriebsne­uigkeiten: dazu gehören seit zwei Jahren auch gefallene Kollegen.
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Zwei Jahre vor dem zweiten Angriff Russlands auf die Ukraine haben Sie die Leitung des Werks übernommen.
Foto: Screenshot Mauro Longobardo: „Ein Luftalarm ist nicht normal. Aber für uns wurde er zur Normalität, er erschreckt uns nicht mehr.“ Zwei Jahre vor dem zweiten Angriff Russlands auf die Ukraine haben Sie die Leitung des Werks übernommen.
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Foto: ArcelorMit­tal Viele ehemalige Stahlarbei­ter leisten derzeit ihren Militärdie­nst, andere verließen die Region oder das Land.

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