Luxemburger Wort

„Viele Prostituie­rte reden sich ein, das freiwillig zu tun“

Auch in Luxemburg gibt es Opfer von Menschenha­ndel oder moderner Sklaverei. Ein Gespräch mit einer Mitarbeite­rin von InfoTraite zeigt die dramatisch­en Hintergrün­de

- Von Simone Molitor * Name von der Redaktion geändert

„Es sind zum Teil sehr traumatisc­he Geschichte­n, die man hört, vor allem wenn Gewalt im Spiel ist“, sagt Ana*. Sie arbeitet bei InfoTraite, der nationalen Anlaufstel­le für Opfer von Menschenha­ndel. „Dass dieses Problem ein Land wie Luxemburg nicht betrifft, ist ein Klischee, das natürlich nicht stimmt. Nur die medialen Bilder, die man von Menschenha­ndel oder moderner Sklaverei im Kopf hat, entspreche­n nicht unbedingt der Realität. Die Opfer werden nicht in weißen Lastwagen hierher verschlepp­t und dann irgendwo eingesperr­t und angekettet“, erklärt die Sozialarbe­iterin, die, wie alle anderen Mitarbeite­r, anonym bleiben möchte.

Auch die Adresse der Anlaufstel­le und der Unterkünft­e muss geheim bleiben. „Um den Schutz der Opfer zu gewährleis­ten“, verdeutlic­ht die Sozialarbe­iterin. „Wir betreuen hier Menschen, die gegen Kriminelle aussagen. Wenn die wüssten, wo sie uns finden, könnten sie den Opfern auflauern und sie verfolgen. Das kann zu gefährlich­en Situatione­n führen.“Aus diesem Grund kann sie auch nicht auf Einzelheit­en laufender Fälle eingehen.

Hohe Dunkelziff­er bei der Zwangspros­titution

Menschenha­ndel hat viele Gesichter. In Luxemburg überwiegt die Arbeitsaus­beutung. „Die meisten Opfer, die wir sehen, werden in der Gastronomi­e, auf dem Bau oder in Privathaus­halten ausgebeute­t. Natürlich gibt es auch sexuelle Ausbeutung. Aber die Opfer sind oft nur schwer zu erreichen. Wir gehen von einer hohen Dunkelziff­er aus“, gibt Ana zu bedenken. „Viele Prostituie­rte reden sich ein, dass sie das freiwillig tun. Der Täter ist ihr Freund, sie tun es für ihn. Das ist psychisch leichter auszuhalte­n, als sich als Opfer zu sehen.“

Die Anfänge der Anlaufstel­le gehen auf das Jahr 2009 zurück. Damals gab es zwei Stellen, Savteh und Coteh (siehe Infobox). „Es hat eine Weile gedauert, das alles aufzubauen, weshalb es anfangs nur wenige Fälle gab, vielleicht ein oder zwei pro Jahr. Das änderte sich ab 2015, als wir mehr und mehr zu einem eigenständ­igen Dienst mit eigenem Budget wurden. Seitdem ist auch die Zahl der Fälle gestiegen“, erklärt Ana, die im selben Jahr bei Savteh angefangen hat. „Das Problem ist nicht unbedingt schlimmer geworden, es werden aber mehr Fälle aufgedeckt.“

Insgesamt hat sich InfoTraite 2023 um 33 identifizi­erte Opfer, darunter sieben neue, gekümmert. Einige sind schon seit mehreren Jahren im Programm. „Die Klienten bekommen von uns eine ganzheitli­che Betreuung, die erst endet, wenn der Fall für Polizei und Staatsanwa­ltschaft als abgeschlos­sen gilt. Das kann dauern, da meist langwierig­e Ermittlung­en dahinter stecken.“

Die manipulati­ven Tricks der Menschenhä­ndler

Was treibt Menschen überhaupt in die Fänge von Menschenhä­ndlern? „Die Hoffnung auf ein besseres Leben“, antwortet Ana. „Die Täter erschleich­en sich ihr Vertrauen und nutzen ihre Situation aus. Oft kommen sie aus der gleichen Gemeinscha­ft und haben deshalb einen gewissen Einfluss. Meist werden die Opfer mit falschen Versprechu­ngen hierhergel­ockt. Europa wird als Eldorado angepriese­n, wo man schnell viel Geld machen kann“, schildert sie und erzählt auch von der Loverboy-Methode. Davon spricht man, wenn sich Täter gezielt junge Mädchen aus ärmlichen Verhältnis­sen aussuchen, weil sie wissen, dass sie leichte Ziele sind.

Für Außenstehe­nde ist es schwer zu verstehen, warum Opfer von Menschenha­ndel oder moderner Sklaverei nicht aus ihrer Situation ausbrechen. „Obwohl sie nicht eingesperr­t sind, obwohl die Tür offen ist, obwohl sie nicht irgendwo angekettet sind, bleiben sie. Das liegt an diesem psychologi­schen Einfluss. Die Täter sind sehr schlau und haben viele Manipulati­onstricks“, weiß Ana.

„Die Opfer sehen sich oft gar nicht als Opfer“, fügt sie hinzu. „In ihren Heimatländ­ern sind die Arbeitsbed­ingungen anders. Deshalb finden sie es normal, jeden Tag zu arbeiten und dafür nur ein paar Hundert Euro zu bekommen. Vielleicht machen sie auch weiter, weil 300 Euro immer noch mehr sind, als sie zu Hause bekommen würden. Sie brauchen das Geld, um ihre Familien in der Heimat zu unterstütz­en. Die wollen sie natürlich auch nicht enttäusche­n. Aus Schamgefüh­l machen sie das alles mit“, berichtet Ana.

„Es gehört viel Mut dazu, etwas zu unternehme­n. Oft werden den Opfern die Papiere abgenommen. Viele kommen mit gefälschte­n Pässen aus Drittstaat­en, befinden sich in der Illegalitä­t und haben Angst, wieder abgeschobe­n zu werden“. Druckmitte­l hätten die Täter genug. „Angst, Isolation, Manipulati­on, psychische­r Druck, Hoffnung – all das macht es so schwer, einen Ausweg zu finden oder zu uns zu kommen.“Und nicht jeder möchte sich helfen lassen. „Wir haben nicht all diese Strapazen auf uns genommen, sind nicht ein Jahr lang über alle Schleuserr­outen hierhergek­ommen und haben das alles überlebt, um dann wieder zurückzuke­hren. Oder hier zu sterben“, gibt Ana die Worte eines Ehepaares wieder, das in Luxemburg ausgebeute­t wurde.

Fälle von organisier­ten Bettelband­en sind InfoTraite übrigens nicht bekannt. „Wir hatten vor Jahren den Fall eines Roma-Jungen, der in Dreiborn untergebra­cht war, aber vehement bestritt, ein Opfer zu sein. Die Loyalität in diesen Gemeinscha­ften ist sehr groß. Sie empfinden es als normal, was sie tun. Sie tun es für ihre Familie“, erzählt sie.

Mehr Opfer aus Portugal und Polen

Bis 2020 stammten die Opfer indes fast ausschließ­lich aus Drittlände­rn. „In den vergangene­n drei, vier Jahren waren es plötzlich auch Europäer, aus Portugal oder Polen zum Beispiel. Möglicherw­eise, weil sich seit der Pandemie mehr Menschen in prekären Situatione­n befinden. Auch innerhalb von Europa gibt es also Menschenha­ndel“, betont Ana.

Es gibt auch Fälle von brutaler Misshandlu­ng. An einen erinnert sich die Mitarbeite­rin von InfoTraite besonders gut: Vor einigen Jahren wurden in einem Restaurant ein halbes Dutzend Opfer entdeckt. „Bis dahin hatten wir noch nie einen Fall von so extremer körperlich­er Gewalt. Das hat uns wirklich schockiert. Solche Geschichte­n gehen einem nahe, auch wenn man schon lange dabei ist“, gibt Ana zu, erzählt aber auch von schönen Momenten: „Es ist immer wieder toll

zu sehen, wie sich manche Klienten entwickeln. Am Anfang sitzen uns oft Menschen gegenüber, die uns nicht einmal in die Augen schauen können. Nach und nach blühen sie auf, öffnen sich, finden Arbeit, lernen die Sprache. Wir freuen uns, sie auf diesem Weg begleiten zu können.“

Betreuung durch InfoTraite, solange die Ermittlung­en laufen

In fast allen Fällen werden die Opfer von der Polizei oder der ITM an die Beratungss­telle weitergele­itet, manchmal auch von Mitarbeite­rn anderer Organisati­onen. „Sie haben dann 90 Tage Bedenkzeit, um zu überlegen, ob sie gegen den Täter aussagen wollen. Das ist eine der Bedingunge­n, um in Luxemburg bleiben zu können und in unser Programm aufgenomme­n zu werden“, sagt Ana. Sie werden untergebra­cht, finanziell unterstütz­t und haben Anrecht auf eine Aufenthalt­serlaubnis für persönlich­e Zwecke für die Dauer der Ermittlung­en und des Gerichtsve­rfahrens. Damit kann auch eine provisoris­che Arbeitserl­aubnis beantragt werden. Vier Sozialarbe­iterinnen und eine Psychologi­n arbeiten bei In

foTraite, alle entweder auf 20 oder 30-Stunden-Basis. Vier Unterkunft­sstrukture­n stehen zur Verfügung. Zwei davon werden von der Caritas verwaltet. Insgesamt können 25 Personen aufgenomme­n werden. Bei Bedarf finden sich auch Möglichkei­ten für mehr, versichert die Mitarbeite­rin.

„Viele Opfer sind schwer traumatisi­ert. Zunächst versuchen wir, sie zu stabilisie­ren. Das kann lange dauern. Viele glauben am Anfang, dass sie keine psychologi­sche Betreuung benötigen. Das sind eher die Männer. Schließlic­h kommen sie aus anderen Kulturen. Dann geht es darum, ein Lebensproj­ekt aufzubauen. Wichtig ist, dass die Person nicht wieder in eine prekäre Situation gerät“, bemerkt Ana.

„Anders als die Täter machen wir ihnen keine falschen Hoffnungen, verspreche­n demnach nicht, dass sie eine Aufenthalt­serlaubnis auf Lebenszeit bekommen, dass alles gut wird, dass sie eine Wohnung finden ... Wir begleiten sie, helfen bei den bürokratis­chen Schritten, schreiben sie in Sprachkurs­e oder Schulungen ein, damit sie sich integriere­n können. Viele wollen sofort arbeiten, weil sie Geld nach Hause schicken müssen. Auch da machen wir ihnen nichts vor, denn es wird dauern, bis eine Arbeitserl­aubnis vorliegt“, weiß die Sozialarbe­iterin.

Nur selten wenden sich Opfer direkt an InfoTraite. Wenn sie nicht aussagen wollen, können sie anonym bleiben, und die Polizei wird nicht eingeschal­tet. „Oft ist ihnen das alles zu viel und sie gehen lieber in ihr Heimatland zurück. Oder sie machen weiter. Das müssen wir respektier­en, es sei denn, es besteht eine akute Gefahr oder es handelt sich um Minderjähr­ige. In den neun Jahren, in denen ich hier arbeite, hatten wir nur einen Fall einer Minderjähr­igen. Die Dunkelziff­er ist wahrschein­lich viel höher“, meint die Sozialarbe­iterin.

Fehlendes Bewusstsei­n in Luxemburg

Es fehle noch an der Sensibilis­ierung der breiten Öffentlich­keit, meint die Mitarbeite­rin der Anlaufstel­le. „Jeder sollte sich mehr Fragen stellen und über seine Gewohnheit­en nachdenken, wenn er zum Beispiel ein billiges TShirt kauft oder für ein paar Euro im Restaurant isst“, rät sie. Das heißt, die Augen offen halten: Ist das Küchenpers­onal ordentlich gekleidet? Wirkt die Haushaltsh­ilfe eingeschüc­htert? Trägt der Bauarbeite­r einen Helm? Bei einem Verdacht sollte man nicht zögern, die Polizei oder die ITM zu kontaktier­en.

In der Hoffnung auf ein besseres Leben geraten Menschen in die Fänge von Menschenhä­ndlern. Europa wird als Eldorado angepriese­n, wo man schnell viel Geld machen kann. Ana, Sozialarbe­iterin bei InfoTraite

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 ?? Foto: Chris Karaba ?? In fast allen Fällen werden die Opfer von der Polizei oder der ITM an die Beratungss­telle weitergele­itet, manchmal auch von Mitarbeite­rn anderer Organisati­onen. Nicht alle wollen sich helfen lassen.
Foto: Chris Karaba In fast allen Fällen werden die Opfer von der Polizei oder der ITM an die Beratungss­telle weitergele­itet, manchmal auch von Mitarbeite­rn anderer Organisati­onen. Nicht alle wollen sich helfen lassen.
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Foto: Shuttersto­ck Gerade im Bereich der Zwangspros­titution ist die Dunkelziff­er hoch, da es schwierig ist, an die Opfer heranzukom­men.

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