„Viele Prostituierte reden sich ein, das freiwillig zu tun“
Auch in Luxemburg gibt es Opfer von Menschenhandel oder moderner Sklaverei. Ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin von InfoTraite zeigt die dramatischen Hintergründe
„Es sind zum Teil sehr traumatische Geschichten, die man hört, vor allem wenn Gewalt im Spiel ist“, sagt Ana*. Sie arbeitet bei InfoTraite, der nationalen Anlaufstelle für Opfer von Menschenhandel. „Dass dieses Problem ein Land wie Luxemburg nicht betrifft, ist ein Klischee, das natürlich nicht stimmt. Nur die medialen Bilder, die man von Menschenhandel oder moderner Sklaverei im Kopf hat, entsprechen nicht unbedingt der Realität. Die Opfer werden nicht in weißen Lastwagen hierher verschleppt und dann irgendwo eingesperrt und angekettet“, erklärt die Sozialarbeiterin, die, wie alle anderen Mitarbeiter, anonym bleiben möchte.
Auch die Adresse der Anlaufstelle und der Unterkünfte muss geheim bleiben. „Um den Schutz der Opfer zu gewährleisten“, verdeutlicht die Sozialarbeiterin. „Wir betreuen hier Menschen, die gegen Kriminelle aussagen. Wenn die wüssten, wo sie uns finden, könnten sie den Opfern auflauern und sie verfolgen. Das kann zu gefährlichen Situationen führen.“Aus diesem Grund kann sie auch nicht auf Einzelheiten laufender Fälle eingehen.
Hohe Dunkelziffer bei der Zwangsprostitution
Menschenhandel hat viele Gesichter. In Luxemburg überwiegt die Arbeitsausbeutung. „Die meisten Opfer, die wir sehen, werden in der Gastronomie, auf dem Bau oder in Privathaushalten ausgebeutet. Natürlich gibt es auch sexuelle Ausbeutung. Aber die Opfer sind oft nur schwer zu erreichen. Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus“, gibt Ana zu bedenken. „Viele Prostituierte reden sich ein, dass sie das freiwillig tun. Der Täter ist ihr Freund, sie tun es für ihn. Das ist psychisch leichter auszuhalten, als sich als Opfer zu sehen.“
Die Anfänge der Anlaufstelle gehen auf das Jahr 2009 zurück. Damals gab es zwei Stellen, Savteh und Coteh (siehe Infobox). „Es hat eine Weile gedauert, das alles aufzubauen, weshalb es anfangs nur wenige Fälle gab, vielleicht ein oder zwei pro Jahr. Das änderte sich ab 2015, als wir mehr und mehr zu einem eigenständigen Dienst mit eigenem Budget wurden. Seitdem ist auch die Zahl der Fälle gestiegen“, erklärt Ana, die im selben Jahr bei Savteh angefangen hat. „Das Problem ist nicht unbedingt schlimmer geworden, es werden aber mehr Fälle aufgedeckt.“
Insgesamt hat sich InfoTraite 2023 um 33 identifizierte Opfer, darunter sieben neue, gekümmert. Einige sind schon seit mehreren Jahren im Programm. „Die Klienten bekommen von uns eine ganzheitliche Betreuung, die erst endet, wenn der Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft als abgeschlossen gilt. Das kann dauern, da meist langwierige Ermittlungen dahinter stecken.“
Die manipulativen Tricks der Menschenhändler
Was treibt Menschen überhaupt in die Fänge von Menschenhändlern? „Die Hoffnung auf ein besseres Leben“, antwortet Ana. „Die Täter erschleichen sich ihr Vertrauen und nutzen ihre Situation aus. Oft kommen sie aus der gleichen Gemeinschaft und haben deshalb einen gewissen Einfluss. Meist werden die Opfer mit falschen Versprechungen hierhergelockt. Europa wird als Eldorado angepriesen, wo man schnell viel Geld machen kann“, schildert sie und erzählt auch von der Loverboy-Methode. Davon spricht man, wenn sich Täter gezielt junge Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen aussuchen, weil sie wissen, dass sie leichte Ziele sind.
Für Außenstehende ist es schwer zu verstehen, warum Opfer von Menschenhandel oder moderner Sklaverei nicht aus ihrer Situation ausbrechen. „Obwohl sie nicht eingesperrt sind, obwohl die Tür offen ist, obwohl sie nicht irgendwo angekettet sind, bleiben sie. Das liegt an diesem psychologischen Einfluss. Die Täter sind sehr schlau und haben viele Manipulationstricks“, weiß Ana.
„Die Opfer sehen sich oft gar nicht als Opfer“, fügt sie hinzu. „In ihren Heimatländern sind die Arbeitsbedingungen anders. Deshalb finden sie es normal, jeden Tag zu arbeiten und dafür nur ein paar Hundert Euro zu bekommen. Vielleicht machen sie auch weiter, weil 300 Euro immer noch mehr sind, als sie zu Hause bekommen würden. Sie brauchen das Geld, um ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Die wollen sie natürlich auch nicht enttäuschen. Aus Schamgefühl machen sie das alles mit“, berichtet Ana.
„Es gehört viel Mut dazu, etwas zu unternehmen. Oft werden den Opfern die Papiere abgenommen. Viele kommen mit gefälschten Pässen aus Drittstaaten, befinden sich in der Illegalität und haben Angst, wieder abgeschoben zu werden“. Druckmittel hätten die Täter genug. „Angst, Isolation, Manipulation, psychischer Druck, Hoffnung – all das macht es so schwer, einen Ausweg zu finden oder zu uns zu kommen.“Und nicht jeder möchte sich helfen lassen. „Wir haben nicht all diese Strapazen auf uns genommen, sind nicht ein Jahr lang über alle Schleuserrouten hierhergekommen und haben das alles überlebt, um dann wieder zurückzukehren. Oder hier zu sterben“, gibt Ana die Worte eines Ehepaares wieder, das in Luxemburg ausgebeutet wurde.
Fälle von organisierten Bettelbanden sind InfoTraite übrigens nicht bekannt. „Wir hatten vor Jahren den Fall eines Roma-Jungen, der in Dreiborn untergebracht war, aber vehement bestritt, ein Opfer zu sein. Die Loyalität in diesen Gemeinschaften ist sehr groß. Sie empfinden es als normal, was sie tun. Sie tun es für ihre Familie“, erzählt sie.
Mehr Opfer aus Portugal und Polen
Bis 2020 stammten die Opfer indes fast ausschließlich aus Drittländern. „In den vergangenen drei, vier Jahren waren es plötzlich auch Europäer, aus Portugal oder Polen zum Beispiel. Möglicherweise, weil sich seit der Pandemie mehr Menschen in prekären Situationen befinden. Auch innerhalb von Europa gibt es also Menschenhandel“, betont Ana.
Es gibt auch Fälle von brutaler Misshandlung. An einen erinnert sich die Mitarbeiterin von InfoTraite besonders gut: Vor einigen Jahren wurden in einem Restaurant ein halbes Dutzend Opfer entdeckt. „Bis dahin hatten wir noch nie einen Fall von so extremer körperlicher Gewalt. Das hat uns wirklich schockiert. Solche Geschichten gehen einem nahe, auch wenn man schon lange dabei ist“, gibt Ana zu, erzählt aber auch von schönen Momenten: „Es ist immer wieder toll
zu sehen, wie sich manche Klienten entwickeln. Am Anfang sitzen uns oft Menschen gegenüber, die uns nicht einmal in die Augen schauen können. Nach und nach blühen sie auf, öffnen sich, finden Arbeit, lernen die Sprache. Wir freuen uns, sie auf diesem Weg begleiten zu können.“
Betreuung durch InfoTraite, solange die Ermittlungen laufen
In fast allen Fällen werden die Opfer von der Polizei oder der ITM an die Beratungsstelle weitergeleitet, manchmal auch von Mitarbeitern anderer Organisationen. „Sie haben dann 90 Tage Bedenkzeit, um zu überlegen, ob sie gegen den Täter aussagen wollen. Das ist eine der Bedingungen, um in Luxemburg bleiben zu können und in unser Programm aufgenommen zu werden“, sagt Ana. Sie werden untergebracht, finanziell unterstützt und haben Anrecht auf eine Aufenthaltserlaubnis für persönliche Zwecke für die Dauer der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens. Damit kann auch eine provisorische Arbeitserlaubnis beantragt werden. Vier Sozialarbeiterinnen und eine Psychologin arbeiten bei In
foTraite, alle entweder auf 20 oder 30-Stunden-Basis. Vier Unterkunftsstrukturen stehen zur Verfügung. Zwei davon werden von der Caritas verwaltet. Insgesamt können 25 Personen aufgenommen werden. Bei Bedarf finden sich auch Möglichkeiten für mehr, versichert die Mitarbeiterin.
„Viele Opfer sind schwer traumatisiert. Zunächst versuchen wir, sie zu stabilisieren. Das kann lange dauern. Viele glauben am Anfang, dass sie keine psychologische Betreuung benötigen. Das sind eher die Männer. Schließlich kommen sie aus anderen Kulturen. Dann geht es darum, ein Lebensprojekt aufzubauen. Wichtig ist, dass die Person nicht wieder in eine prekäre Situation gerät“, bemerkt Ana.
„Anders als die Täter machen wir ihnen keine falschen Hoffnungen, versprechen demnach nicht, dass sie eine Aufenthaltserlaubnis auf Lebenszeit bekommen, dass alles gut wird, dass sie eine Wohnung finden ... Wir begleiten sie, helfen bei den bürokratischen Schritten, schreiben sie in Sprachkurse oder Schulungen ein, damit sie sich integrieren können. Viele wollen sofort arbeiten, weil sie Geld nach Hause schicken müssen. Auch da machen wir ihnen nichts vor, denn es wird dauern, bis eine Arbeitserlaubnis vorliegt“, weiß die Sozialarbeiterin.
Nur selten wenden sich Opfer direkt an InfoTraite. Wenn sie nicht aussagen wollen, können sie anonym bleiben, und die Polizei wird nicht eingeschaltet. „Oft ist ihnen das alles zu viel und sie gehen lieber in ihr Heimatland zurück. Oder sie machen weiter. Das müssen wir respektieren, es sei denn, es besteht eine akute Gefahr oder es handelt sich um Minderjährige. In den neun Jahren, in denen ich hier arbeite, hatten wir nur einen Fall einer Minderjährigen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel höher“, meint die Sozialarbeiterin.
Fehlendes Bewusstsein in Luxemburg
Es fehle noch an der Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit, meint die Mitarbeiterin der Anlaufstelle. „Jeder sollte sich mehr Fragen stellen und über seine Gewohnheiten nachdenken, wenn er zum Beispiel ein billiges TShirt kauft oder für ein paar Euro im Restaurant isst“, rät sie. Das heißt, die Augen offen halten: Ist das Küchenpersonal ordentlich gekleidet? Wirkt die Haushaltshilfe eingeschüchtert? Trägt der Bauarbeiter einen Helm? Bei einem Verdacht sollte man nicht zögern, die Polizei oder die ITM zu kontaktieren.
In der Hoffnung auf ein besseres Leben geraten Menschen in die Fänge von Menschenhändlern. Europa wird als Eldorado angepriesen, wo man schnell viel Geld machen kann. Ana, Sozialarbeiterin bei InfoTraite