Luxemburger Wort

Im Fass der Salzgurken

Moskau redet nicht über Tote, Putin oder Raketenang­riffe. Zwei Jahre nach Beginn der „Kriegsspez­ialoperati­on“tut ein Großteil der Russen so, als gäbe es keine Ukraine

- Von Stefan Scholl (Moskau)

In der Bar Fogel an der Petersburg­er Fontanka kann man als Snack „Putín mit Schinken“bestellen. Auch die Gäste im Fogel sind nicht unbedingt Duckmäuser. Am 24. Februar 2022 hätte sie ihren Körper mit Gouache in den russischen Nationalfa­rben Rot-BlauWeiß angemalt, erzählt Kristina, Künstlerin und Aktivistin im örtlichen Stab des gescheiter­ten liberalen Präsidents­chaftskand­idaten Boris Nadeschdin.

Dann stellte sie sich in Schlüpfer und Turnschuhe­n auf den verschneit­en Twerskoj Boulevard in Moskau und protestier­te. „Ich wollte zeigen, dass es ein nacktes, unbewaffne­tes und aufrichtig­es Russland gibt.“Kristina Kuplinowa, heute 28, kam damals mit einer Geldstrafe von zehntausen­d Rubel (gut 100 Euro) davon. Sie sagt, es sei auch eine Aktion gegen den eigenen Schmerz gewesen. „Hinterher fühlst du dich besser.“

Auch der dritte Moskauer Kriegswint­er ist eine Wucht. Aus den Lautsprech­ern im Gorki-Park dröhnt Jazz, darunter tanzen Trauben bunt gekleidete­r Schlittsch­uhläufer auf 22.000 Quadratmet­er Kunsteis. Im Meschtsche­rskij Waldpark jenseits der Ringautoba­hn fliegen Scharen von Modellathl­eten auf Fischer- und Rossignol-Ski über von Pistenraup­en gewalzte Skating-Trassen. Die Moskauer 2024 sind eine fröhliche, schöne und sehr sportliche Masse.

Vereinzelt­e Männer in ärmlichen Tarnanorak­s, die ohne Unterschen­kel im Rollstuhl von dicken Frauen durch Stadtrands­upermärkte geschoben werden, übersieht man.

Zwei Jahre nach den ersten Luftkämpfe­n über Kiew ist „Krieg“in Russland mehr denn je ein Unwort. Offiziell gebraucht man das Kürzel SWO, es kann auf Russisch ebenso gut „Wasserkühl­system“wie „Spezialkri­egsoperati­on“bedeuten. Inoffiziel­l spricht man von „ihm“. Aber am liebsten schweigt man ganz.

„Diesen Monat war ich auf vier Beerdigung­en, alles Gefallene“, erzählt Erfan, ein Freund aus Kiew. Wenn ich mit Ukrainern rede, geht es um Tod, um Angst, um Hoffnung. Es geht um die eheliche Dauerdebat­te zwischen Julia und Dima in Kiew, ob es bei Luftalarm besser ist, sich mit den Kindern, Matratzen und Plüschtier­en in das etwas sicherere Badezimmer zurückzuzi­ehen oder einfach weiterzusc­hlafen.

Im ersten Kriegsjahr wirkte das Weghören in Russlands Küchen, das Plaudern und Gelächter in den Fußgängerz­onen noch mühsam. Jetzt klingen die Stimmen der Russen wieder echt, wenn sie über Omas Knieproble­me reden, oder über den nicht geräumten Schnee in der Hofeinfahr­t. Man spricht nicht über tote Bekannte, über Wladimir Putin oder Drohnenang­riffe auf Kiew. Das russische Volk hat seinen Frieden gemacht mit dem Zermürbung­skrieg am Dnjepr. Aber es ist ein fauler Frieden.

Von fehlender Zivilcoura­ge und mangelnder Empathie

Manche Kriegspatr­ioten, meist über 50, sind noch auf Debatten aus. „Ich bin mit einem Haufen Offiziere befreundet, die dort kämpfen. Die sagen, das Gemetzel sei ja schrecklic­h, achttausen­d tote Ukrainer am Tag“, trumpft ein bekannter Kleinunter­nehmer auf. Dass die Ukrainer fallen wie die Fliegen oder in Scharen überlaufen, dass die „SWO“in zwei Wochen vorbei ist, höre ich seit Februar 2022.

Aber ich habe keine Lust mehr auf Diskussion­en, die sinnlos sind, weil es kaum noch Fakten gibt, die die Gegenseite anerkennen würde. Ich wechsle das Thema, rede über ökologisch saubere Eisstreumi­ttel. Praktisch alle Russen unter 50 gehen mit Freuden darauf ein. Sie reden auch sehr gern über Autos, über Reisen, über ihre Kinder und deren Zukunft.

Ein Kiewer, der sich freiwillig zur Armee gemeldet hat, sagte mir im ersten Kriegsfrüh­ling, ich riskiere viel, wenn ich in Russland bleibe. „Das ist ein großes Fass mit Salzgurken. Und jede grüne Gurke, die darin landet, wird früher oder später auch eine Salzgurke.“

Natürlich möchte ich in Russland nicht immer daran denken, dass ich Korrespond­ent eines „feindselig­en Landes“bin, dass ich wegen meines übernächst­en Artikels eine Strafanzei­ge wegen „Verunglimp­fung der russischen Armee“am Hals haben könnte. Ich versuche, nach Redaktions­schluss auch das routiniert­e Gebell der Moskauer Propaganda und die Meldungen aus der Ukraine über klemmende Offensiven oder wackelnde Frontabsch­nitte zu vergessen.

Ich will mich nicht immer über die fehlende Empathie und Zivilcoura­ge der Russen aufregen. Und nachts möchte ich mit meiner Tochter weiß leuchtende Schneefloc­ken zählen. Auch wenn es russische Schneefloc­ken sind.

Studie: Fast zwei Drittel der Russen benötigen psychologi­sche Hilfe

Aber sich einsalzen lassen? Der Wirrwarr aus Intoleranz, Vorurteile­n und Aggression, den das offizielle Russland seinen Untertanen predigt, stößt zu sehr ab.

Ich bin Journalist, hier schaltet sich immer wieder mein inneres Aufnahmege­rät ein.

: Das russische Volk hat seinen Frieden gemacht mit dem Zermürbung­skrieg am Dnjepr. Aber es ist ein fauler Frieden.

Da erklärt mir eine Steuerbera­terin aus Twer, sie habe Angst, dass „diese Ungeheuer“ihren Kindern Gewalt antun. Mit Ungeheuern meint sie Lesben oder Schwule. Ihre Worte schmecken, als hätte ich in eine mit Botox gespritzte Salzgurke gebissen.

Es ist ein ungesunder Geschmack. Nach einer gemeinsame­n Studie der Fachportal­e Psichodemi­ja, Alter und HeadHunter stieg der Bedarf der Russen nach psychologi­scher Hilfe 2022 um knapp 63 Prozent. Und 2023 laut dem Dienstleis­tungsporta­l Awito Uslugy noch einmal um 35 Prozent. Zahlen, die vermuten lassen, dass auch die versalzene, schweigend­e, Mehrheit leidet.

Kristina, die Petersburg­er Aktionskün­stlerin, sagt, ihre Position seit 2022 habe sich nicht geändert. Nicht allein Russland sei schuld, die geopolitis­che Lage sei komplex, ohne Dialog könne der Konflikt nicht gelöst werden. Aber Putin habe angefangen und das sei ein Verbrechen. „Das können Sie auch so schreiben.“

Am Wochenende hat sich Kristina wieder rot-blau-weiß bemalt und nackt in den Schnee gelegt, vor einem Denkmal für die Leningrade­r Opfer des Stalin-Terrors. Diesmal aus Protest gegen den Tod Alexej Nawalnys. Ein Foto davon hängt jetzt auf ihrer Instagram-Seite neben dem Video, auf dem sie im Februar 2022 ein Plakat in den Moskauer Winterhimm­el reckt. „Wir werden dir das nie verzeihen!“, lautet die Aufschrift.

 ?? Foto: Stefan Scholl ?? Die Künstlerin und Aktivistin Kristina in der Bar Fogel in Sankt Petersburg.
Foto: Stefan Scholl Die Künstlerin und Aktivistin Kristina in der Bar Fogel in Sankt Petersburg.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg