Der Duft von Zimt
8
Die Haare trug sie zu modernen Locken aufgedreht und locker hochgesteckt, ihre vorstehende Oberlippe war von Natur aus dunkelrot und ihre Augen tiefdunkel. Auch wenn sie nicht mehr die Jüngste war – in Hamburg zog sie mit ihrer großen Gestalt und ihren ausgefallenen Hüten die Blicke sämtlicher Männer auf sich: die der Hamburger Arbeiter, Kaufleute und Schmuggler, die der französischen Offiziere und Soldaten, ja sogar die der schrecklichen Grünröcke, die an den Toren der Stadt positioniert waren, um sämtliche Passanten auf verbotene Waren zu durchsuchen.
Dennoch – wie gern würde Louise die Zeit zurückdrehen. Sie wünschte, sie hätten sich niemals in Hamburg niedergelassen, wären niemals aus Frankreich geflohen, könnten wieder in den kleinen Stadtpalast zurückkehren. Dort hatte Louise zwar gearbeitet bis zum Umfallen, sie war nur ein kleines, unbedeutendes Dienstmädchen in grauen Kleidern gewesen, das von allen Herrschaften außer der Madame fürchterlich behandelt worden war, doch zumindest hatte sie immer gewusst, was sie zu tun hatte. Sie war für den Putz der Madame zuständig gewesen: ihre Kleidung, ihre Hüte, ihre Ausstattung. Und es gab immer genug zu essen.
Heute hing jede einzelne Mahlzeit von der Summe aller Entscheidungen ab, die Louise im Laufe des Tages traf, für sich und für die Madame. Sie war froh, dass die Madame sich zumindest noch selbstständig ankleiden und waschen konnte. Größere Unterstützung aber war von ihr nicht zu erwarten.
„Wollen wir heute vielleicht einen Spaziergang machen?“Louise versuchte, nicht gereizt zu klingen, doch ihre Stimme zitterte leicht. Einen Moment lang lauschte sie dem gewohnten Schweigen, das statt einer Antwort folgte. Dann seufzte sie und begann, wie so oft, zu singen, um die Stille zu füllen. J’aime l’oignon frit à l’huile, J’aime l’oignon car il est bon. Sie sang von Zwiebeln, angebraten in Öl, während ihr Magen knurrte, und dachte an Frankreich, an den alten Stadtpalast und an die Operette Le jeune Henri, die Madame Laurent damals besucht hatte. Als sie nachts nach Hause kam und Louise ihre komplizierte Flechtfrisur Strähne für Strähne löste, sang die Madame ihr leise, aber mit leuchtenden Augen und klarer Stimme ihre Lieblingslieder vor. Andächtig lauschte sie und prägte sich jeden Ton, jedes Wort ein. Heute gaben sie ihr in den stillsten Tagen Kraft. Ob die Madame auch an damals denken musste, während nun Louise sang? Ihrer Miene war nichts anzumerken.
„Un seul oignon frit à l’huile, Un seul oignon nous change en Lion …“– da hörte sie ein Klopfen.
Louise eilte zum Fenster und sah hinaus. Karl stand in der Rosenstraße, groß und gut aussehend wie immer, seine Kappe schief auf dem Kopf. In der Hand hielt er einen Strick, und dieser Strick führte zum Hals einer Kuh.
Louise keuchte vor Überraschung.
„Beeil dich“, rief Karl mit durch das Fensterglas gedämpfter Stimme. „Du musst sie verstecken, bevor uns jemand sieht.“
„Mon Dieu“, entfuhr es Louise. Rasch öffnete sie das Fenster.
„Was soll das heißen, ich muss sie verstecken?“
„Diese Kuh wird dich und mich durch den Winter bringen.“
Louise sah zwischen der Kuh und Karl hin und her. Das Tier war nicht besonders dick, aber auch nicht ausgezehrt. Sein weißes Fell war von großen hellbraunen Flecken übersät.
„Wem hast du sie gestohlen, mh?“, fragte sie, und ihre Stimme klang strenger als beabsichtigt.
„Den Franzosen natürlich. Sie haben sie requiriert – und du weißt selbst, dass die Soldaten in dieser Stadt wirklich nicht an Hunger leiden. Im Gegensatz zu uns …“
Louise biss sich auf die Unterlippe. „Das ist gefährlich, Karl. Wenn sie uns erwischen …“Bei dem Gedanken wurde ihr Mund ganz trocken. Bekämen die Soldaten auch nur einen Hinweis von einem Nachbarn, würden sie alles auf den Kopf stellen und nicht nur das Tier mitnehmen, sondern auch Louise. Sie käme sicherlich ins Zuchthaus. Und was sollte Madame Laurent ohne sie anfangen?
Karl sah ihr fest in die Augen. „Niemand wird uns erwischen, Louise. Dieser Winter wird noch härter als die vergangenen. Bald gibt es kaum noch Möglichkeiten, an etwas Essbares zu kommen. Glaub mir, die Kuh wird unsere Rettung sein.“
Nachdenklich betrachtete Louise das Tier, das ihren Blick aus großen Augen mit weißen langen Wimpern ruhig erwiderte. Seine Ohren standen freundlich ab, ganz leicht legte es den Kopf schief, dann blinzelte es zweimal.
Karl bemerkte es wohl ebenfalls, denn er ahmte die Kuh nach und schaute Louise nun mit einem ähnlich treuherzigen Augenaufschlag an.
Da konnte sie nicht anders und lachte leise. „Und sie gibt noch Milch?“
„Guck dir ihren Euter an!“Er war prall gefüllt.
Louises Hände wurden feucht vor Aufregung, sie musste sich entscheiden – so schnell wie möglich. Je länger Karl dort mit der Kuh stand, desto größer die Gefahr, entdeckt zu werden. Also nickte sie schließlich. „Bon. Ich komme.“
Sie lief durch die Stube in den schmalen Flur hinaus und öffnete die Haustür.
„Dann mal hereinspaziert“, rief sie fröhlich gegen das laute Pochen ihres Herzens an, als hätte sie Karl und die Kuh schon erwartet. „Unser Gast darf im alten Stall wohnen.“
Sie ging voran, vorbei an der Küche und dem schmalen Aufstieg, und versuchte Schritt für Schritt, ihre Sorgen abzuschütteln. Es würde schon alles gut gehen, sagte sie sich. Es musste alles gut gehen.
Hinter der Treppe befand sich die Tür zum Hinterhof.
„Passt die Kuh da hindurch?“, fragte Louise mit Blick über ihre Schulter.
„Die Kuh hat einen Namen, Louise“, wies Karl sie zurecht.
„Sie heißt Philibert, und natürlich passt sie da durch.“