„Luxemburg unterstützt die Ukraine sehr, obwohl es ein eher kleines Land ist“
Die Präsidentin der luxemburgisch-ukrainischen Handelskammer, Evgenia Paliy, spricht über die Wirtschaftslage im Land und die Beziehung zum Großherzogtum
Der 24. Februar 2022 wird als ein denkwürdiger Tag im Gedächtnis jedes Ukrainers verbleiben. Vor zwei Jahren hat Russland die Ukraine angegriffen und damit das Leben von Millionen von Menschen verändert. Verwüstung und Zerstörung gehören seitdem bis heute zum Alltag in vielen Gebieten in der Ukraine. Auch die Industrie und die Wirtschaft des Landes sind von den Auswirkungen des Krieges gepägt. Evgenia Paliy ist die Präsidentin der luxemburgisch-ukrainischen Handelskammer (LUCC). Seit zehn Jahren lebt sie im Großherzogtum und setzt sich für eine gute Handelsbeziehung zwischen beiden Ländern ein.
Evgenia Paliy, wie ist die aktuelle Wirtschaftslage in der Ukraine?
Das Land und die Bevölkerung haben sich extrem verändert, die Wirtschaft ist durch die Angriffe schwer getroffen worden. Aber die Ukraine ist der ganzen Welt dankbar, dass sie so viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Langsam will das Land seine Einwohner aber zurück. Und die Leute wollen auch wieder zurück nach Hause, in die Ukraine. Familien wurden auseinandergerissen, weil die Männer geblieben sind und die Frauen und Kinder das Land verlassen haben. Diese Familien wollen wieder zusammenfinden. Viele Männer wurden auch im Krieg getötet, und die Frauen sind jetzt zur Ernährerin der Familie geworden. Deswegen will die Regierung neue Arbeitsstellen schaffen. Egal in welcher Branche, ob in der Technik oder Landwirtschaft. Mehr Jobs für Frauen müssen her.
Was ist geplant, um die Wirtschaft wieder aufzubauen?
Das ist einer der wichtigsten Punkte. Die Industrie und die Infrastruktur müssen wieder hergestellt werden, das stellt natürlich auch enorme Anforderungen an die Baubranche. Aber es ist Priorität, die Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen wieder aufzubauen. Das ist auch die Gelegenheit für Investoren, Material in die Ukraine zu liefern und den Wiederaufbau zu unterstützen. Wir verstehen aber auch, dass die Investoren zurückhaltend sind, denn der Krieg läuft ja noch.
Gibt es denn Investoren?
Die Investoren sind noch zurückhaltend. Aber es muss jetzt investiert werden. Als Beispiel: Bevor man zu einem Konzert geht, muss man sein Ticket kaufen. Man kann nicht einfach warten, bis der Auftritt stattfindet und dann hingehen. Und so ist das beim Finanzieren des Wiederaufbaus. Das muss jetzt passieren. Unsere Nachbarn wie Polen, Deutschland oder Rumänien investieren bereits viel in den Wiederaufbau der Ukraine.
Und wie sieht es mit Unterstützung aus Luxemburg aus?
Die Ukraine bekommt viel Unterstützung aus Luxemburg – wirtschaftlich, militärisch und auch im IT-Bereich. Das Land ist ja eines der führenden Finanz- und Technologiezentren in Europa. Im September wurde ein Abkommen geschlossen zwischen beiden Ländern, um die Ukraine in der IT und Cybersecurity zu unterstützen. Auch unsere Ministerien arbeiten eng zusammen. Aber nicht nur auf nationalem Level. Auch regional wird unterstützt, in den Städten direkt. Luxemburg hilft der Ukraine sehr – und das alles, obwohl es ein eher kleines Land ist. Außerdem hat
Luxemburg ja auch viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen.
War das von Kriegsbeginn an so?
Vom ersten Tag an. Luxemburg hat hinter der Ukraine gestanden und dem Land den Rücken gestärkt. Und das ist bis heute so. Wir verstehen, dass die Welt sich verändert, und viele andere Länder ebenfalls Unterstützung brauchen. Deshalb muss die Ukraine jetzt neue Wege finden, um sich zu finanzieren. Es sind jetzt schon zwei Jahre vergangen, und mit der Zeit wird von Europa wahrscheinlich weniger Geld in die Ukraine kommen.
Gibt es auch Schwierigkeiten zwischen Luxemburg und der Ukraine?
Nein. Finanziell nicht. In Luxemburg gibt es viele europäische Institutionen. Und die EU hat die nächste finanzielle Unterstützung für die nächsten Jahre bereitgestellt. Wir, die Ukraine, müssen aber verstehen, dass das nicht immer so sein wird. Im Moment gibt es schon viele Fonds, um Geld für die Ukraine zu sammeln. Zum Beispiel von der Europäischen Investitionsbank. Wir müssen aber auch neue Kooperationswege finden zwischen Luxemburg und der Ukraine.
Wie sieht der Handel zwischen beiden Ländern aus?
Es gibt schon jetzt große Kooperationen. Aber wir suchen nach weiteren, neuen Partnerschaften mit großen Einzelhändlern wie Cactus oder Auchan. So schaffen wir für ukrainische Agrarunternehmen einen Zugang zum internationalen Markt. Wir sind also auf der Suche nach einer neuen Export-Zusammenarbeit. Luxemburg war schon immer wegen seiner Technologie und den Start-ups sehr interessant für die Ukraine. Jedes Jahr gab es eine fantastische Veranstaltung in Luxemburg, die ICT-Spring-Messe, wo es die Möglichkeit zum Kennenlernen mit Ukrainern und viel Match-Making gab. Wir wollen aber auch die Vielfalt der verschiedenen Projekte und Möglichkeiten nach Luxemburg bringen und sie luxemburgischen Investoren vorstellen. Zum Beispiel unser Obst und Gemüse. Aber natürlich auch das Sonnenblumenöl und andere landwirtschaftliche Produkte. Generell sind wir für unsere große Landwirtschaft bekannt.
Sind Öl und Mehl immer noch die wichtigsten Exportgüter?
Ja, aber nicht nur. Wir haben auch international bekannte Fleischproduzenten. Die Unternehmen sind zu richtigen „Big Playern“auf dem Markt geworden. Sie exportieren Hähnchenfleisch nicht nur nach Europa, sondern auch zu anderen Kontinenten. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und der Europäischen Investitionsbank unterstützen das.
Wie sehen denn die Transportwege aus?
Die Flugverbindungen sind geschlossen, der gesamte Export-Import läuft über Züge und Straßen. Das sind im Moment die einzigen Routen, die leider von Zeit zu Zeit auch noch angegriffen werden.
Sind sie überhaupt sicher genug?
Nein, sind sie nicht. Das Land befindet sich im Krieg, das ist uns allen klar. Aber trotzdem sind das die einzigen Transportwege. Zum Beispiel über die Straßen bei Lwiw in der Nähe der polnischen Grenze. Natürlich dauert der Transport deshalb etwas länger und ist teurer als früher.
Wo sehen Sie die Zukunft der ukrainischen Wirtschaft?
Die Zukunft liegt in der Informationstechnologie. Wir haben viele Experten in diesem Bereich. Und sie arbeiten mit Europa und den Vereinigten Staaten zusammen. Als der Krieg im Jahr 2022 angefangen hat, floss das Geld hauptsächlich erstmal in andere Bereiche. Aber Luxemburg unterstützt den IT-Sektor und Innovationen in der Ukraine enorm, ich denke da an die Zusammenarbeit mit Start-ups und die Finanzierungsmöglichkeiten, die es da gibt.
Es bestehen viele Verbindungen, denn in jedem Bereich spielt Technologie eine große Rolle: in der Landwirtschaft, der Energie, im Bauwesen. Alles, was man anfasst, braucht IT. Das ist also die Zukunft.