Was man von der Berlinale zurückbehalten wird
„Dahomey“von Mati Diop, ein Film nah an zeitgenössischen politischen Debatten und mutig auf Konventionen pfeifend, gewinnt den Goldenen Bären
Wie schon im Vorjahr geht der Goldene Bär der Berlinale an einen Dokumentarfilm. Doch mit der diesjährigen Auszeichnung für „Dahomey“von der französisch-senegalesischen Regisseurin Mati Diop gelang der Wettbewerbs-Jury nicht nur eine exzellente, sondern geradezu historische Entscheidung. Nie zuvor hatte das Werk einer Schwarzen Regisseurin (oder eines Schwarzen Regisseurs) den Hauptpreis des größten deutschen Filmfestivals gewonnen.
Gerade einmal 67 Minuten ist „Dahomey“lang, doch Diop, die zuletzt 2019 für den Spielfilm „Atlantique“in Cannes den Großen Preis der Jury erhalten hatte, gelingt in dieser kurzen Zeit Erstaunliches. Sie begleitet die 2021 erfolgte Rückgabe von 26, einst von der Kolonialmacht Frankreich geraubten Kunstschätzen an Benin: in langen, stillen Einstellungen sieht man, wie Kisten gepackt und die Schätze später in ihrer Heimat wieder aufund ausgestellt werden. Doch die Regisseurin verleiht der Raubkunst auch buchstäblich eine Stimme, die höchst poetisch und als Akt des magischen Realismus aus dem Off spricht. Und parallel dazu wird klug und kontrovers über Restitutions-Politik diskutiert, nicht von alten, weißen Historikern, sondern von jungen Menschen vor Ort im einstigen Königreich Dahomey.
Der Goldene Bär ehrt nicht nur sie, sondern auch „die gesamte sichtbare und unsichtbare Gemeinschaft von Menschen“, die der Film repräsentiert. Mati Diop, Filmregisseurin
So nah an zeitgenössischen politischen Debatten, so raffiniert in seiner hybriden Erzählweise, so mutig auf Konventionen pfeifend war kein anderer Film im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb. Der Goldene Bär ehre nicht nur sie, sondern auch „die gesamte sichtbare und unsichtbare Gemeinschaft von Menschen“, die der Film repräsentiere, sagte die sichtlich bewegten Regisseurin in ihrer klugen, präzisen Dankesrede. Das Bild wie sie ihren Preis aus den Händen von Oscar-Gewinnerin Lupita Nyong’o – ihrerseits erste Schwarze Person auf dem Jury-Vorsitz – entgegennahm, gehört von nun an zu den eindrücklichsten in der Geschichte der Internationalen Filmfestspiele von Berlin.
Tagespolitik war in diesem Jahr omnipräsent am Potsdamer Platz, auch bei der Preisverleihung am Samstagabend gab es immer wieder flammende Plädoyers für einen Waffenstillstand im Nahen Osten. Die Jury ehrte wie zum Trotz allerdings auch leichtfüßige, humorvolle Werke. Der Große Preis der Jury ging an Festival-Dauergast Hong Sang-soo für „The Traveler’s Needs“, in dem Isabelle Huppert ziel- und mittellos durch Korea driftet. Im Mai wird übrigens die Cinémathèque eine Ciné-Konferenz über sein Werk veranstalten und dem in Berlin, Cannes, Locarno und San Sebastian ausgezeichneten Regisseur eine Retrospektive mit fünf Filmen widmen.
Der Preis der Jury ging an die exzentrischalberne Science Fiction-Farce „L’Empire“von
Bruno Dumont, die nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker als unerträglich abgetan hatten. Als bester Regisseur wurde verdient der junge Experimentalfilmer Nelson Carlo de los Santos Arias aus der Dominikanischen Republik ausgezeichnet, der in „Pepe“auf eigenwillige, einfallsreiche Weise die Migrationsgeschichte eines Nilpferds erzählt.
Das englischsprachige Kino, das im Wettbewerb dieses Jahr eine eher untergeordnete gespielt hatte, setzte sich bei den SchauspielPreisen durch. Als erster Mann seit der Einführung der genderneutralen Kategorien wurde Marvel-Star Sebastian Stan für die beste Hauptrolle geehrt. In „A Different Man“ver
körpert er einen Schauspieler, der sich in einer gewagten Operation von den Neurofibromatose-bedingten Wucherungen in seinem Gesicht befreien lässt, aber dadurch trotzdem nicht automatisch glücklich wird. Für ihre wenigen, aber erschütternden Szenen als skrupellose Nonne und Leiterin eines Magdalenen-Heims im Eröffnungsfilm „Small Things Like These“erhielt Emily Watson den Silbernen Nebenrollen-Bären.
Erstmals seit 2019 bekam damit keine deutschsprachige Schauspielerin einen Preis; die hoch gehandelte Liv Lisa Fries für Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ging leer aus. Der zweite deutsche Beitrag wurde der
weil von der Jury, in der neben Nyong’o auch u.a. Christian Petzold, die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko und US-Filmemacher Brady Corbet saßen, als preiswürdig erachtet: Matthias Glasner gewann für sein stark autobiografisches, dreistündiges Familienepos „Sterben“den Drehbuch-Preis. Der österreichische Kameramann Martin Gschlacht erhielt für seine Bilder im Psychodrama „Des Teufels Bad“den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung. Von der Jury ignoriert wurde derweil die als Mitfavorit gehandelte Tragikomödie „My Favourite Cake“, die am Ende lediglich mit dem Preis des Kritikerverbandes Fipresci ausgezeichnet wurde.
Während in Berlin nun nach fünf Jahren unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian ein neuerlicher Führungswechsel ansteht und die aus England kommende gebürtige US-Amerikanerin Tricia Tuttle frischen Wind und ein bisschen mehr Pep sorgen soll, dient die letzte Preisverleihung unter der Ägide des Italieners auch als finale Bilanz. Und die fällt positiver aus, als es in der Hauptstadt mitunter dargestellt wurde. Peinliche Programm-Patzer wie sein Vorgänger Kosslick erlaubte sich Chatrian erfreulich selten. Und auch wenn oft der Glamour und wahre Meisterwerke gefehlt haben mögen: dass einer im wahrsten Sinne des Wortes kleine Perle wie „Dahomey“auf der Berlinale die ganz große Bühne geboten wurde, ist kein geringer Verdienst.