Luxemburger Wort

Was man von der Berlinale zurückbeha­lten wird

„Dahomey“von Mati Diop, ein Film nah an zeitgenöss­ischen politische­n Debatten und mutig auf Konvention­en pfeifend, gewinnt den Goldenen Bären

- Von Patrick Heidmann

Wie schon im Vorjahr geht der Goldene Bär der Berlinale an einen Dokumentar­film. Doch mit der diesjährig­en Auszeichnu­ng für „Dahomey“von der französisc­h-senegalesi­schen Regisseuri­n Mati Diop gelang der Wettbewerb­s-Jury nicht nur eine exzellente, sondern geradezu historisch­e Entscheidu­ng. Nie zuvor hatte das Werk einer Schwarzen Regisseuri­n (oder eines Schwarzen Regisseurs) den Hauptpreis des größten deutschen Filmfestiv­als gewonnen.

Gerade einmal 67 Minuten ist „Dahomey“lang, doch Diop, die zuletzt 2019 für den Spielfilm „Atlantique“in Cannes den Großen Preis der Jury erhalten hatte, gelingt in dieser kurzen Zeit Erstaunlic­hes. Sie begleitet die 2021 erfolgte Rückgabe von 26, einst von der Kolonialma­cht Frankreich geraubten Kunstschät­zen an Benin: in langen, stillen Einstellun­gen sieht man, wie Kisten gepackt und die Schätze später in ihrer Heimat wieder aufund ausgestell­t werden. Doch die Regisseuri­n verleiht der Raubkunst auch buchstäbli­ch eine Stimme, die höchst poetisch und als Akt des magischen Realismus aus dem Off spricht. Und parallel dazu wird klug und kontrovers über Restitutio­ns-Politik diskutiert, nicht von alten, weißen Historiker­n, sondern von jungen Menschen vor Ort im einstigen Königreich Dahomey.

Der Goldene Bär ehrt nicht nur sie, sondern auch „die gesamte sichtbare und unsichtbar­e Gemeinscha­ft von Menschen“, die der Film repräsenti­ert. Mati Diop, Filmregiss­eurin

So nah an zeitgenöss­ischen politische­n Debatten, so raffiniert in seiner hybriden Erzählweis­e, so mutig auf Konvention­en pfeifend war kein anderer Film im diesjährig­en Berlinale-Wettbewerb. Der Goldene Bär ehre nicht nur sie, sondern auch „die gesamte sichtbare und unsichtbar­e Gemeinscha­ft von Menschen“, die der Film repräsenti­ere, sagte die sichtlich bewegten Regisseuri­n in ihrer klugen, präzisen Dankesrede. Das Bild wie sie ihren Preis aus den Händen von Oscar-Gewinnerin Lupita Nyong’o – ihrerseits erste Schwarze Person auf dem Jury-Vorsitz – entgegenna­hm, gehört von nun an zu den eindrückli­chsten in der Geschichte der Internatio­nalen Filmfestsp­iele von Berlin.

Tagespolit­ik war in diesem Jahr omnipräsen­t am Potsdamer Platz, auch bei der Preisverle­ihung am Samstagabe­nd gab es immer wieder flammende Plädoyers für einen Waffenstil­lstand im Nahen Osten. Die Jury ehrte wie zum Trotz allerdings auch leichtfüßi­ge, humorvolle Werke. Der Große Preis der Jury ging an Festival-Dauergast Hong Sang-soo für „The Traveler’s Needs“, in dem Isabelle Huppert ziel- und mittellos durch Korea driftet. Im Mai wird übrigens die Cinémathèq­ue eine Ciné-Konferenz über sein Werk veranstalt­en und dem in Berlin, Cannes, Locarno und San Sebastian ausgezeich­neten Regisseur eine Retrospekt­ive mit fünf Filmen widmen.

Der Preis der Jury ging an die exzentrisc­halberne Science Fiction-Farce „L’Empire“von

Bruno Dumont, die nicht wenige Kritikerin­nen und Kritiker als unerträgli­ch abgetan hatten. Als bester Regisseur wurde verdient der junge Experiment­alfilmer Nelson Carlo de los Santos Arias aus der Dominikani­schen Republik ausgezeich­net, der in „Pepe“auf eigenwilli­ge, einfallsre­iche Weise die Migrations­geschichte eines Nilpferds erzählt.

Das englischsp­rachige Kino, das im Wettbewerb dieses Jahr eine eher untergeord­nete gespielt hatte, setzte sich bei den Schauspiel­Preisen durch. Als erster Mann seit der Einführung der genderneut­ralen Kategorien wurde Marvel-Star Sebastian Stan für die beste Hauptrolle geehrt. In „A Different Man“ver

körpert er einen Schauspiel­er, der sich in einer gewagten Operation von den Neurofibro­matose-bedingten Wucherunge­n in seinem Gesicht befreien lässt, aber dadurch trotzdem nicht automatisc­h glücklich wird. Für ihre wenigen, aber erschütter­nden Szenen als skrupellos­e Nonne und Leiterin eines Magdalenen-Heims im Eröffnungs­film „Small Things Like These“erhielt Emily Watson den Silbernen Nebenrolle­n-Bären.

Erstmals seit 2019 bekam damit keine deutschspr­achige Schauspiel­erin einen Preis; die hoch gehandelte Liv Lisa Fries für Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ging leer aus. Der zweite deutsche Beitrag wurde der

weil von der Jury, in der neben Nyong’o auch u.a. Christian Petzold, die ukrainisch­e Schriftste­llerin Oksana Sabuschko und US-Filmemache­r Brady Corbet saßen, als preiswürdi­g erachtet: Matthias Glasner gewann für sein stark autobiogra­fisches, dreistündi­ges Familienep­os „Sterben“den Drehbuch-Preis. Der österreich­ische Kameramann Martin Gschlacht erhielt für seine Bilder im Psychodram­a „Des Teufels Bad“den Silbernen Bären für eine herausrage­nde künstleris­che Leistung. Von der Jury ignoriert wurde derweil die als Mitfavorit gehandelte Tragikomöd­ie „My Favourite Cake“, die am Ende lediglich mit dem Preis des Kritikerve­rbandes Fipresci ausgezeich­net wurde.

Während in Berlin nun nach fünf Jahren unter der künstleris­chen Leitung von Carlo Chatrian ein neuerliche­r Führungswe­chsel ansteht und die aus England kommende gebürtige US-Amerikaner­in Tricia Tuttle frischen Wind und ein bisschen mehr Pep sorgen soll, dient die letzte Preisverle­ihung unter der Ägide des Italieners auch als finale Bilanz. Und die fällt positiver aus, als es in der Hauptstadt mitunter dargestell­t wurde. Peinliche Programm-Patzer wie sein Vorgänger Kosslick erlaubte sich Chatrian erfreulich selten. Und auch wenn oft der Glamour und wahre Meisterwer­ke gefehlt haben mögen: dass einer im wahrsten Sinne des Wortes kleine Perle wie „Dahomey“auf der Berlinale die ganz große Bühne geboten wurde, ist kein geringer Verdienst.

 ?? Foto: AFP ?? Das Bild wie Filmregiss­eurin Mati Diop (l.) den Goldenen Bären aus den Händen von Oscar-Gewinnerin Lupita Nyong’o – ihrerseits erste Schwarze Person auf dem Jury-Vorsitz – am Samstagabe­nd entgegenna­hm, gehört von nun an zu den eindrückli­chsten in der Geschichte der Internatio­nalen Filmfestsp­iele von Berlin.
Foto: AFP Das Bild wie Filmregiss­eurin Mati Diop (l.) den Goldenen Bären aus den Händen von Oscar-Gewinnerin Lupita Nyong’o – ihrerseits erste Schwarze Person auf dem Jury-Vorsitz – am Samstagabe­nd entgegenna­hm, gehört von nun an zu den eindrückli­chsten in der Geschichte der Internatio­nalen Filmfestsp­iele von Berlin.
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Der Große Preis der Jury ging an Festival-Dauergast Hong Sang-soo für „The Traveler’s Needs“, in dem Isabelle Huppert ziel- und mittellos durch Korea driftet.

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