Luxemburger Wort

Immer mehr Migranten aus Nordafrika kommen nach Griechenla­nd

Am Freitag wurden in der Ägäis 85 Passagiere von einem manövrieru­nfähigen Migrantenb­oot gerettet. Der Vorfall zeigt einen neuen Trend

- Von Gerd Höhler (Athen)

Die kleine Insel Gavdos, 50 Kilometer vor der Südküste Kretas gelegen, war lange ein Geheimtipp unter Griechenla­nd-Liebhabern. Den Besucher erwarten einsame Sandstränd­e und glasklares Wasser. Jetzt entwickelt das idyllische Eiland immer mehr Anziehungs­kraft auf Menschensc­hmuggler, die irreguläre Migranten in die EU einschleus­en. Kamen früher die meisten irreguläre­n Einwandere­r aus der Türkei über die Ägäis und den Grenzfluss Evros nach Griechenla­nd, steuern Schleuser aus Nordafrika jetzt immer häufiger Gavdos und Kreta an. Im vergangene­n Jahr kamen insgesamt 617 Migranten auf die beiden Inseln. In den ersten sieben Wochen dieses Jahres waren es bereits 612.

Migrations­experten führen den Anstieg vor allem auf zwei Faktoren zurück: Griechenla­nd hat die Kontrollen in der Ägäis erheblich verschärft. Auch Italien geht schärfer gegen irreguläre Migranten vor. Viele Schleuser steuern deshalb jetzt aus Nordafrika Gavdos und Kreta an, die südlichste­n Inseln Griechenla­nds im Mittelmeer.

Besonders für die 120 Einwohner des kleinen Gavdos ist das ein großes Problem. Ihre nur 30 Quadratkil­ometer große Insel verfügt nicht über die Infrastruk­tur für die Aufnahme und Unterbring­ung von Migranten. Das zeigte sich am 28. Januar. Damals erreichte ein Boot mit 74 Migranten, darunter 20 Kinder, den Strand von Trypiti an der Südküste der Insel. Die Menschen waren in Tobruk in Libyen aufgebroch­en.

Weil ein heftiger Sturm tobte, gab es keine Fährverbin­dung von Gavdos nach Kreta. Die Migranten mussten deshalb fünf Tage lang auf Gavdos ausharren. Die Gemeindeve­rwaltung brachte die Schutzsuch­enden notdürftig in leerstehen­den Gebäuden unter. Es fehlte an Decken und trockener Kleidung für die völlig durchnässt­en Menschen. Immerhin gab es zu essen: Vangelis Tsirinatis, der einen Kiosk und die einzige Taverne auf der Insel betreibt, kochte rund um die Uhr Mahlzeiten für die Migranten. Zum Glück hatte er genug Spaghetti, Reis, Kartoffeln und Konserven gelagert. „Aber zwei Tage später wären die Vorräte erschöpft gewesen“, berichtete der 46-jährige Wirt.

Wenige Tage später erreichte ein weiteres Migrantenb­oot, diesmal mit 40 Insassen, den Strand von Trypiti. Dann rettete die Besatzung einer griechisch­en Fregatte 72 Menschen, die 40 Kilometer vor der Südküste von Gavdos in Seenot geraten waren. Unter den Schiffbrüc­higen waren 14 Kinder. Nur wenige Stunden darauf nahm der unter vietnamesi­scher Flagge fahrende Frachter „Leopard“im gleichen Seegebiet 63 Migranten auf, deren Boot zu sinken drohte.

Inselbewoh­ner in Sorge

Zwischen Libyen und Griechenla­nds südlichste­n Inseln liegen etwa 300 Kilometer.

In Griechenla­nd angekommen­e Migranten berichtete­n, dass die Schleuser für die Überfahrt von Tobruk nach Kreta zwischen 4.000 und 5.000 Dollar verlangt hätten, umgerechne­t 3.700 bis 4.600 Euro. Aber manche bezahlen die Reise mit ihrem Leben. Die libysche See ist häufig stürmisch. Viele der von den Schleusern eingesetzt­en Schiffe sind gar nicht seetüchtig und überdies völlig überladen. Die Route von Libyen nach Kreta gilt als eine der gefährlich­sten im ganzen Mittelmeer. Immer wieder verschwind­en Migrantenb­oote.

Nach Angaben des UN-Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR sind im vergangene­n Jahr im östlichen Mittelmeer 710 Migranten ertrunken. Damit hat sich die Zahl der Opfer gegenüber 2022 verdoppelt. Die tatsächlic­he Zahl dürfte aber nach Expertensc­hätzungen weitaus höher sein, weil längst nicht alle Bootsunter­gänge beobachtet und statistisc­h erfasst werden.

Auf Gavdos wächst unterdesse­n die Sorge vor einem weiteren Anschwelle­n des Migrantens­troms. „Wir sind nicht dafür ausgestatt­et, die Menschen zu versorgen“, sagte die Inselbürge­rmeisterin Lilian Stefanaki der Zeitung „Ta Nea“. In zwei Briefen vom Januar und Februar appelliert­e die Lokalpolit­ikerin an die Regierung in Athen und die UNHCR, Hilfsgüter wie Schlafsäck­e, Hygieneart­ikel und Arzneimitt­el auf die Insel zu schicken. Die meisten Menschen auf Gavdos leben vom Fremdenver­kehr in den Sommermona­ten. Umso größer ist nun die Sorge, ihre Insel könnte zu einem zweiten Lampedusa werden, der kleinen italienisc­hen Insel, auf der Tausende Migranten in völlig überfüllte­n Lagern hausen. Dann wäre es mit dem Tourismus wohl vorbei, fürchtet der Wirt Vangelis.

Nach Angaben des UNFlüchtli­ngshilfswe­rks UNHCR sind im vergangene­n Jahr im östlichen Mittelmeer 710 Migranten ertrunken.

 ?? Foto: Max Brugger/Sea-Watch/dpa ?? Für die gefährlich­e Überfahrt werden die Migranten in der Regel von Schleusern auf hochseeunt­augliche „Boote“gesetzt.
Foto: Max Brugger/Sea-Watch/dpa Für die gefährlich­e Überfahrt werden die Migranten in der Regel von Schleusern auf hochseeunt­augliche „Boote“gesetzt.

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