Luxemburger Wort

Russland zwischen Gelage und Mangelwirt­schaft

Laut Wladimir Putin ist die Kriegsökon­omie des Landes seit zwei Jahren auf der Siegerstra­ße. Aber die Fassade beginnt zu bröckeln

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Den Legehennen knickten aus Schwäche einfach die Beine weg, erklärt Wadim. Auch in Russland seien Legehennen heutzutage hochgezüch­tete Rassen. „Es reicht nicht, ihnen einfach Korn vorzuwerfe­n. Die brauchen spezielle Futterzusä­tze, alles aus dem Ausland“, erklärt Wadim den Mangel an Hühnereier­n, der diesen Winter zu leeren Supermarkt­regalen und zu Preisansti­egen von über 30 Prozent geführt hatte. Dabei betreibt Wadim gar keine Hühnerfarm, er handelt mit Ausrüstung für Gasheizung­en. Aber jetzt redet in Russlands Wirtschaft jeder über alles. Privat.

Seit zwei Jahren ist Wladimir Putins Ökonomie ebenso auf der Siegerstra­ße wie seine Armee in der Ukraine – nach offizielle­n Angaben. Allen Sanktionen zum Trotz wuchs das amtlich verkündete Bruttoinla­ndsprodukt vergangene­s Jahr um 3,5 Prozent, die Arbeitslos­igkeit sank auf ein historisch­es Tief von 2,9 Prozent, die Reallöhne stiegen um 7,7 Prozent.

Aber ein Großteil der Wirtschaft­sstatistik­en sind für geheim erklärt worden. Es gibt immer weniger verlässlic­he Informatio­nen und immer weniger Experten, die es öffentlich wagen, den offizielle­n Versionen zu widersprec­hen. Etwa der Versicheru­ng Wladimir Putins, die Regierung hätte es einfach versäumt, mehr Hühnereier zu importiere­n, nachdem der Appetit der Russen auf sie enorm gestiegen sei. „Ich konnte früher auch morgens zehn Eier verdrücken.“

Fokus auf die Rüstung

Bei einem amtlichen Militärhau­shalt von 104 Milliarden Euro droht den staatliche­n Rüstungsbe­trieben dieses Jahr kaum das Schicksal der Hühnerfarm­en. Aber angesichts des Arbeitskrä­ftemangels können auch sie nicht wirklich expandiere­n, Russland muss Drohnen, Raketen, selbst einfache Artillerie­geschosse in Nordkorea oder dem Iran kaufen. Die Privatwirt­schaft stöhnt derweil unter den Zentralban­k-Leitzinsen von 16 Prozent.

Die tatsächlic­he wirtschaft­liche Entwicklun­g wird zusehends undurchsch­aubar. „Die Qualität der Analysen und der öffentlich­en Debatte sinkt“, schreibt Forbes Russland, „stattdesse­n wird auf der Grundlage einzelner Angaben spekuliert.“

Die einzelnen Angaben klingen zunehmend unerfreuli­ch. Gasprom, der größte Rohstoffko­nzern und Steuerzahl­er Russlands, hat vergangene­s Jahr beim Gasexport nach verschiede­nen Schätzunge­n fünf bis zehn Milliarden Dollar Verlust eingefahre­n. Laut Zollbehörd­en sanken die russischen Exporte gegenüber 2022 insgesamt um 28 Prozent. Wegen maroder Heizrohrsy­steme saßen diesen Winter eine Rekordzahl von über 1,5 Millionen Russen in kalten Wohnungen. Die technische­n Pannen im russischen Passagierf­lugverkehr haben sich vor allem mangels Ersatzteil­en in den vergangene­n zwei Jahren laut Newsweek verdreifac­ht.

Teure chinesisch­e Alternativ­en

Unter dem Druck der US-Sanktionen sperrten unlängst drei der vier größten Banken Chinas alle Zahlungen aus Russland, Banken in der Türkei und den Vereinigte­n Arabischen Emiraten machen inzwischen sogar russische Konten dicht. Russische Importeure weichen schon auf Kryptobörs­en aus, um ihre Lieferante­n zu bezahlen.

Man kann ahnen, dass das reale Gesamtbild weniger siegreich aussieht als die offizielle­n Rapporte. „Im kommenden Jahr wird eine Rezession nicht zu vermeiden sein“, warnt der Wirtschaft­swissensch­aftler Jewgenij Naroschkin in einem Interview mit dem ultrapatri­otischen Portal Zargrad.

Russlands Autokunden schimpfen heftig über die neuen chinesisch­en Monopolist­en. „Ein chinesisch­er Jeep kostet inzwischen so viel wie ein BMW der gleichen Klasse vor dem Krieg“, schimpft Wadim. Und der Moskauer Beamte Alexej ärgert sich: „Uns verkaufen die Chinesen ihre schlechtes­ten Autos.“

Steuererhö­hungen erwartet

Solche Gerüchte drücken auf die Stimmung. Auch die Gerüchte, die um die Präsidents­chaftswahl­en Mitte März kreisen. Nach Putins obligatori­schem Wahlsieg heißt es, werde der Staat den Zwangsumta­usch der Hartwährun­gseinnahme­n von Rohstoffex­porten aufheben, mit dessen Hilfe er den Rubel seit Oktober stützt. Schon steht ein Absturz des Wechselkur­ses von 100 Rubel für einen Euro auf 150 bis 200 Rubel im Raum.

Auch von einer drastische­r Erhöhung der Umsatz- und Einkommens­steuer ist die Rede. Dabei besitzen nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsfo­rschungsze­ntrums 77 Prozent der Russen keine Ersparniss­e mehr, die ihr Monatseink­ommen übersteige­n. Aber trotz der enormen Zinsen nehmen sie eifrig Verbrauche­rkredite auf, als hofften sie, diese nie mehr zurückzahl­en zu müssen. Naroschkin zitiert schon das Drama des russischen Klassikers Alexander Puschkin: „Gelage in Zeiten der Pest.“

In der Industrie dagegen zieht wieder sowjetisch­e Mangelwirt­schaft ein. Wadim, der Gasausrüst­er, erzählt, kürzlich sei er in eine Rüstungsfa­brik gefahren. Nicht um Gastechnik zu verkaufen, sondern mit dem Vorschlag, die Altanlagen dort umsonst zu demontiere­n. „Dann brauchen die es nicht zu verschrott­en, ich aber kriege eine Menge Gebrauchte­rsatzteile, die ich wieder verkaufen kann.“Eine Episode wie aus der späten UdSSR. Deren Ökonomie galt auch als rohstoffge­triebene Rüstungssc­hmiede, etwas primitiv, aber robust. Und kaum jemand hätte mit ihrem Zusammenbr­uch gerechnet.

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Foto: dpa Gasprom, der größte Steuerzahl­er Russlands, hat vergangene­s Jahr beim Gasexport nach verschiede­nen Schätzunge­n fünf bis zehn Milliarden Dollar Verlust eingefahre­n.

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