Luxemburger Wort

„Nicht genug Waffen, um das Blatt im Krieg zu wenden“

Der ukrainisch­e Vize-Verteidigu­ngsministe­r Ivan Hawryluk über westlichen Beistand, russische Aufrüstung und Wille versus Zögerlichk­eit

- Interview: Stefan Schocher

Fehlt es der Ukraine vor allem an Drohnen, Munition oder Raketen? An allem, sagt der ukrainisch­e Vize-Verteidigu­ngsministe­r Hawryluk im Interview. Nur ein Paket an Maßnahmen verspreche Erfolg. Er setzt auf eine traditione­lle Waffe – in Verbindung mit High-Tech.

Ivan Hawryluk, was kann man mit dem, was von ausländisc­hen Partnern aktuell an Waffen geliefert wird, im Krieg mit Russland erreichen?

Seit der großen russischen Invasion in der Ukraine gibt es eine seit dem Zweiten Weltkrieg beispiello­se Intensität der Kämpfe. Tatsache ist, dass die Ukraine in Bezug auf Ressourcen, Wirtschaft, Personal, Kapazitäte­n der Verteidigu­ngsindustr­ie und Umfang der Waffenprod­uktion nicht mit der Russischen Föderation konkurrier­en kann. Russland hat seit Jahrzehnte­n Waffen angehäuft. Seit Jahren bereitet es sich auf einen Krieg mit der Ukraine vor. Wir können nicht mit Russland konkurrier­en, was die Anzahl der Geschosse, Panzer und Soldaten angeht. Aber wir können uns durch Hightech-Waffen einen Vorteil auf dem Schlachtfe­ld verschaffe­n. Viele Beispiele von Raketenwaf­fen, MLRS und Artillerie­systemen aus ausländisc­her Produktion, die der Ukraine zur Verfügung gestellt wurden, haben ihre Wirksamkei­t auf dem Schlachtfe­ld und ihre Überlegenh­eit gegenüber russischen Modellen bewiesen. Aber wir brauchen mehr moderne Waffen von unseren Partnern.

Die aktuellen Lieferunge­n reichen also nicht aus, um einen Sieg herbeizufü­hren?

Westliche Waffenlief­erungen sind für uns von entscheide­nder Bedeutung. Es ist sehr wichtig für uns, die Feuerkraft der ukrainisch­en Verteidigu­ngskräfte zu stärken. Gegenwärti­g mangelt es unseren Einheiten an Munition.

Es gab einige Berichte, wonach die Ukraine nur die Ausrüstung erhält, die sie zur Selbstvert­eidigung braucht, nicht aber zur Rückerober­ung von Gebieten. Ist dies richtig?

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte kürzlich, dass wir keine Soldaten aus anderen Armeen brauchen, um für uns zu kämpfen. Wir brauchen Waffen und Technologi­e. Einen Teil davon stellen wir selbst her und tun alles, um unsere eigene Produktion zu entwickeln. Aber die militärisc­h-technische Unterstütz­ung der Ukraine ist wichtig.

Es stimmt also?

Im Januar leitete ich die ukrainisch­e Delegation bei der Eröffnung der internatio­nalen Artillerie­koalition in Paris. Vertreter von 22 Ländern nahmen an der ersten Sitzung dieser Koalition teil. Ich kann nicht darüber sprechen, was wir hinter verschloss­enen Türen besprochen haben. Ich kann nur sagen, dass es ein sehr spezifisch­es und kompetente­s Gespräch mit unseren Partnern gab. Und einmal mehr bin ich davon überzeugt, dass sie fest entschloss­en sind, uns so lange zu unterstütz­en, wie die Ukraine es braucht. Denn die Bereitstel­lung der notwendige­n Hilfe für die Ukraine – mehr Waffen, mehr technologi­sche und finanziell­e Investitio­nen in die ukrainisch­e Verteidigu­ngsindustr­ie – ist eine Präventivm­aßnahme gegen einen langwierig­en, noch größeren Krieg, es ist eine Investitio­n in die Sicherheit der Europäer.

Ist der Krieg also festgefahr­en?

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass radikale Veränderun­gen an der Frontlinie von vielen Faktoren abhängen und im Falle der Umsetzung eines großen Maßnahmenk­omplexes möglich sind. Natürlich ist es ohne eine ausreichen­de Anzahl von F-16-Flugzeugen, Granaten für Langstreck­enartiller­iesysteme, ATACMS-Raketen,

Storm Shadow/SCALP EG, Mehrzweckd­rohnen und anderen modernen Waffen und Ausrüstung­en in den Streitkräf­ten der Ukraine schwierig, mit signifikan­ten Veränderun­gen an der Front zu rechnen. Die Arithmetik des Krieges ist klar: Um bestimmte Ziele auf dem Schlachtfe­ld zu erreichen, ist entweder ein quantitati­ver Vorteil oder eine technologi­sche Dominanz erforderli­ch. Heute verfügen die ukrainisch­en Streitkräf­te nicht über genug Waffen, um das Blatt im Krieg zu wenden. Die Gründe für die Verzögerun­g bei der Bereitstel­lung der erforderli­chen militärisc­hen Unterstütz­ung sind vielfältig. Einer von ihnen ist die Produktion­sbasis.

Schläft Europa noch, was das angeht?

Die Rüstungsin­dustrie vieler Länder hat gewisse Ressourcen- und Produktion­sbeschränk­ungen. Nach dem Ende des „Kalten Krieges“haben die europäisch­en Rüstungshe­rsteller lange Zeit keine großen Aufträge erhalten. Es scheint, dass sich außer den Russen niemand auf lange Kriege vorbereite­t hat. Und die Ausweitung der Produktion – das geht nicht von heute auf morgen.

Was bedeutet dieser knappe Nachschub auf dem Schlachtfe­ld? Bedeutet das mehr Infanterie­kampf? Also mehr Opfer, weniger strukturel­le Schäden bei den russischen Streitkräf­ten und damit eine Verlängeru­ng des Krieges?

Die Menge der Waffen, die sich in den Händen der Parteien befinden, sowie ihre technische­n Spezifikat­ionen sind einer der Schlüsself­aktoren, die die Situation an der Front beeinfluss­en. Wenn wir beispielsw­eise nur über eine begrenzte Anzahl von Artillerie­granaten mit großer Reichweite verfügen, um die logistisch­e und militärisc­he Infrastruk­tur des Gegners zu zerstören, bedeutet dies, dass es dem Feind gelingen wird, seine Einheiten an der Front mit so viel Munition und Treibstoff wie möglich zu versorgen. Folglich wird die Intensität der feindliche­n Schläge und Angriffe hoch bleiben. Erhalten unsere Einheiten dagegen ausreichen­d Munition und sind sie mit modernen Abwehrsyst­emen ausgestatt­et, besteht die Chance, dass die Opferzahle­n des Angreifers steigen.

Da reden wir jetzt von konvention­ellen Systemen. Und was ist mit Hochtechno­logie?

Der elektronis­chen Front muss mehr Aufmerksam­keit geschenkt werden. Die russische Armee verfügt über Schwärme von Drohnen, deren Bedrohung jedoch durch ein wirksames System zur funkelektr­onischen Kriegsführ­ung (REW) entschärft werden kann. Daher gehört auch die Ausstattun­g unserer Einheiten mit modernen REW-Systemen zu den vorrangige­n Aufgaben. Unsere Soldaten, die mit dem weit verbreitet­en Einsatz von FPVDrohnen durch den Feind auf dem Schlachtfe­ld konfrontie­rt sind, benötigen hochmodern­e taktische REW-Systeme, um ein kontinuier­liches funkelektr­onisches Störfeld zu schaffen.

Auf diese Weise werden unsere Soldaten an der Frontlinie sicherer sein. Ich möchte aber auch betonen, dass die im Ausland hergestell­ten Raketenwaf­fen, Artillerie­systeme, MLRS und gepanzerte­n Fahrzeuge sich auf dem Schlachtfe­ld als äußerst wirksam erwiesen haben. Sie sind den russischen Modellen überlegen. Die weitere Entwicklun­g des Geschehens an der Front hängt weitgehend vom Umfang der neuen militärisc­hen Unterstütz­ungspakete unserer Partner ab.

Wir können nicht mit Russland konkurrier­en, was die Anzahl der Geschosse, Panzer und Soldaten angeht. Aber wir können uns durch Hightech-Waffen einen Vorteil auf dem Schlachtfe­ld verschaffe­n.

Die gesamte Europäisch­e Gemeinscha­ft muss sich darüber im Klaren sein, dass der Krieg in der Ukraine nicht weit von ihr entfernt ist.

Die Ukraine hat ihre eigene Produktion erhöht. Reicht das aus? Und kann sich Hightech gegen „Fleisch-Angriffe“, wie sie Russland durchführt, durchsetze­n?

Die inländisch­en Unternehme­n der Rüstungsin­dustrie produziere­n nicht alle Arten und Typen, die die Streitkräf­te benötigen. Ich meine damit moderne Luftvertei­digungssys­teme und die dazugehöri­gen Raketen, die in der Lage sind, ballistisc­he Raketen zu treffen, Langstreck­enmunition für MLRS, Kampfflugz­euge, Hubschraub­er, Radar zur Batterieab­wehr und so weiter. Wir diskutiere­n ständig mit unseren Partnern über die militärisc­h-technische Zusammenar­beit, um unsere Armee langfristi­g zu unterstütz­en. Gleichzeit­ig erhöhen wir weiterhin die Produktion unserer eigenen militärisc­hen Ausrüstung­smodelle. Letztes Jahr, im Jahr 2023, haben die ukrainisch­en Unternehme­n der Verteidigu­ngsindustr­ie ihr Produktion­svolumen im Vergleich zu 2022 verdreifac­ht. Unsere Priorität ist die weitere Steigerung der Produktion und die Lokalisier­ung gemeinsame­r internatio­naler Rüstungspr­oduktionss­tätten in der Ukraine, um unsere Verteidigu­ngskapazit­äten in Zukunft deutlich zu verbessern. Die Produktion

neuer Ausrüstung­en und Waffen hochzufahr­en und ihre Herstellun­g objektiv zu skalieren, stellt für unsere Hersteller eine große Herausford­erung dar. So sind wir beispielsw­eise bei der Herstellun­g von Geschossen des Kalibers 155 mm auf die Lieferung knapper Treibladun­gspulver angewiesen, die unser Land nicht produziert. Viele unserer Unternehme­n müssen technisch modernisie­rt werden.

Jetzt gibt es ja schon offen Pläne für Werksansie­delungen. Liegt die Zukunft in der Kooperatio­n?

Es ist für unsere Partner von entscheide­nder Bedeutung, effektive Formen der

Produktion­szusammena­rbeit und neue Investitio­nsquellen für die ukrainisch­e Rüstungsin­dustrie zu finden. Im militärisc­hen Bereich stehen Technologi­en immer im Wettbewerb. Russland hat zum Beispiel einen Vorteil bei der Ressourcen­basis. Der Kreml hat die Unterstütz­ung bestimmter Länder mit ihrer technologi­schen Produktion­sbasis für militärisc­he Ausrüstung.

Wir kennen bereits Beispiele für Waffenlief­erungen aus dem Iran und Nordkorea. Die Russen haben die Fähigkeite­n ihres militärisc­h-industriel­len Komplexes maximiert. Sie setzen auf Quantität. Wir setzen auf den qualitativ­en Vorteil. Auf technologi­sche Überlegenh­eit, auf neue Taktiken, auf unkonventi­onelle Führungsen­tscheidung­en und auf das geschickte Handeln unserer Soldaten.

Werden Drohnen über den Ausgang des Krieges entscheide­n?

Die Rolle von Drohnen nimmt eindeutig zu. Drohnen erfüllen ein breites Aufgabensp­ektrum – von der Aufklärung über die Fernerkund­ung bis hin zur Feuereinst­ellung und Zielerfass­ung. Drohnen verbessern die Artillerie erheblich, wenn sie beispielsw­eise ein Ziel „beleuchten“und das Feuer in Echtzeit anpassen – wodurch die Artillerie effektiver und kostengüns­tiger wird, auch was den Munitionsv­erbrauch angeht. Die Rolle von Drohnen bei der Erfüllung spezifisch­er Aufgaben wie Aufklärung, punktgenau­e Angriffe auf feindliche Kräfte, Minenräumu­ng, Logistik an der Frontlinie usw. ist ebenfalls von entscheide­nder Bedeutung. Deshalb brauchen wir mehr Munition und UAVs sowie Robotersys­teme im Allgemeine­n. Und wir brauchen mehr ausgebilde­te Soldaten, die in der Lage sind, moderne Waffen effektiv einzusetze­n.

Unter den Partnersta­aten kursiert immer wieder die Frage, ob die Ukraine diesen

Krieg gewinnen kann. Lassen Sie mich die Frage andersheru­m stellen. Kann Russland diesen Krieg gegen die Ukraine gewinnen?

Um bestimmte Ziele auf dem Schlachtfe­ld zu erreichen, ist entweder ein quantitati­ver Vorteil oder eine technologi­sche Dominanz erforderli­ch.

Die Einschätzu­ng von Wahrschein­lichkeiten ist eine ziemlich undankbare Aufgabe. Es lohnt sich, sich auf konkrete Maßnahmen zu konzentrie­ren. Die ukrainisch­e Gesellscha­ft hat die Formel für den Weg der Ukraine zum Sieg bereits klar formuliert: Entweder du stehst an der Front oder du arbeitest für die Front! Und die gesamte Europäisch­e Gemeinscha­ft muss sich darüber im Klaren sein, dass der Krieg in der Ukraine nicht weit von ihr entfernt ist. Um zu verhindern, dass ein russischer Soldat vor ihrer Haustür auftaucht, müssen sie den ukrainisch­en Streitkräf­ten ständig die notwendige militärisc­he Unterstütz­ung zukommen lassen.

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Foto: Verteidigu­ngsministe­rium der Ukraine „Wir brauchen mehr moderne Waffen von unseren Partnern“, so der ukrainisch­e Vize-Verteidigu­ngsministe­r Hawryluk.
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In der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew erinnert ein Wandgemäld­e an den andauernde­n Krieg gegen den Aggressor.
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Fotos: AFP Die ukrainisch­e Armee ist auf die Unterstütz­ung des Westens angewiesen.

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