„Nicht genug Waffen, um das Blatt im Krieg zu wenden“
Der ukrainische Vize-Verteidigungsminister Ivan Hawryluk über westlichen Beistand, russische Aufrüstung und Wille versus Zögerlichkeit
Fehlt es der Ukraine vor allem an Drohnen, Munition oder Raketen? An allem, sagt der ukrainische Vize-Verteidigungsminister Hawryluk im Interview. Nur ein Paket an Maßnahmen verspreche Erfolg. Er setzt auf eine traditionelle Waffe – in Verbindung mit High-Tech.
Ivan Hawryluk, was kann man mit dem, was von ausländischen Partnern aktuell an Waffen geliefert wird, im Krieg mit Russland erreichen?
Seit der großen russischen Invasion in der Ukraine gibt es eine seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellose Intensität der Kämpfe. Tatsache ist, dass die Ukraine in Bezug auf Ressourcen, Wirtschaft, Personal, Kapazitäten der Verteidigungsindustrie und Umfang der Waffenproduktion nicht mit der Russischen Föderation konkurrieren kann. Russland hat seit Jahrzehnten Waffen angehäuft. Seit Jahren bereitet es sich auf einen Krieg mit der Ukraine vor. Wir können nicht mit Russland konkurrieren, was die Anzahl der Geschosse, Panzer und Soldaten angeht. Aber wir können uns durch Hightech-Waffen einen Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen. Viele Beispiele von Raketenwaffen, MLRS und Artilleriesystemen aus ausländischer Produktion, die der Ukraine zur Verfügung gestellt wurden, haben ihre Wirksamkeit auf dem Schlachtfeld und ihre Überlegenheit gegenüber russischen Modellen bewiesen. Aber wir brauchen mehr moderne Waffen von unseren Partnern.
Die aktuellen Lieferungen reichen also nicht aus, um einen Sieg herbeizuführen?
Westliche Waffenlieferungen sind für uns von entscheidender Bedeutung. Es ist sehr wichtig für uns, die Feuerkraft der ukrainischen Verteidigungskräfte zu stärken. Gegenwärtig mangelt es unseren Einheiten an Munition.
Es gab einige Berichte, wonach die Ukraine nur die Ausrüstung erhält, die sie zur Selbstverteidigung braucht, nicht aber zur Rückeroberung von Gebieten. Ist dies richtig?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte kürzlich, dass wir keine Soldaten aus anderen Armeen brauchen, um für uns zu kämpfen. Wir brauchen Waffen und Technologie. Einen Teil davon stellen wir selbst her und tun alles, um unsere eigene Produktion zu entwickeln. Aber die militärisch-technische Unterstützung der Ukraine ist wichtig.
Es stimmt also?
Im Januar leitete ich die ukrainische Delegation bei der Eröffnung der internationalen Artilleriekoalition in Paris. Vertreter von 22 Ländern nahmen an der ersten Sitzung dieser Koalition teil. Ich kann nicht darüber sprechen, was wir hinter verschlossenen Türen besprochen haben. Ich kann nur sagen, dass es ein sehr spezifisches und kompetentes Gespräch mit unseren Partnern gab. Und einmal mehr bin ich davon überzeugt, dass sie fest entschlossen sind, uns so lange zu unterstützen, wie die Ukraine es braucht. Denn die Bereitstellung der notwendigen Hilfe für die Ukraine – mehr Waffen, mehr technologische und finanzielle Investitionen in die ukrainische Verteidigungsindustrie – ist eine Präventivmaßnahme gegen einen langwierigen, noch größeren Krieg, es ist eine Investition in die Sicherheit der Europäer.
Ist der Krieg also festgefahren?
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass radikale Veränderungen an der Frontlinie von vielen Faktoren abhängen und im Falle der Umsetzung eines großen Maßnahmenkomplexes möglich sind. Natürlich ist es ohne eine ausreichende Anzahl von F-16-Flugzeugen, Granaten für Langstreckenartilleriesysteme, ATACMS-Raketen,
Storm Shadow/SCALP EG, Mehrzweckdrohnen und anderen modernen Waffen und Ausrüstungen in den Streitkräften der Ukraine schwierig, mit signifikanten Veränderungen an der Front zu rechnen. Die Arithmetik des Krieges ist klar: Um bestimmte Ziele auf dem Schlachtfeld zu erreichen, ist entweder ein quantitativer Vorteil oder eine technologische Dominanz erforderlich. Heute verfügen die ukrainischen Streitkräfte nicht über genug Waffen, um das Blatt im Krieg zu wenden. Die Gründe für die Verzögerung bei der Bereitstellung der erforderlichen militärischen Unterstützung sind vielfältig. Einer von ihnen ist die Produktionsbasis.
Schläft Europa noch, was das angeht?
Die Rüstungsindustrie vieler Länder hat gewisse Ressourcen- und Produktionsbeschränkungen. Nach dem Ende des „Kalten Krieges“haben die europäischen Rüstungshersteller lange Zeit keine großen Aufträge erhalten. Es scheint, dass sich außer den Russen niemand auf lange Kriege vorbereitet hat. Und die Ausweitung der Produktion – das geht nicht von heute auf morgen.
Was bedeutet dieser knappe Nachschub auf dem Schlachtfeld? Bedeutet das mehr Infanteriekampf? Also mehr Opfer, weniger strukturelle Schäden bei den russischen Streitkräften und damit eine Verlängerung des Krieges?
Die Menge der Waffen, die sich in den Händen der Parteien befinden, sowie ihre technischen Spezifikationen sind einer der Schlüsselfaktoren, die die Situation an der Front beeinflussen. Wenn wir beispielsweise nur über eine begrenzte Anzahl von Artilleriegranaten mit großer Reichweite verfügen, um die logistische und militärische Infrastruktur des Gegners zu zerstören, bedeutet dies, dass es dem Feind gelingen wird, seine Einheiten an der Front mit so viel Munition und Treibstoff wie möglich zu versorgen. Folglich wird die Intensität der feindlichen Schläge und Angriffe hoch bleiben. Erhalten unsere Einheiten dagegen ausreichend Munition und sind sie mit modernen Abwehrsystemen ausgestattet, besteht die Chance, dass die Opferzahlen des Angreifers steigen.
Da reden wir jetzt von konventionellen Systemen. Und was ist mit Hochtechnologie?
Der elektronischen Front muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die russische Armee verfügt über Schwärme von Drohnen, deren Bedrohung jedoch durch ein wirksames System zur funkelektronischen Kriegsführung (REW) entschärft werden kann. Daher gehört auch die Ausstattung unserer Einheiten mit modernen REW-Systemen zu den vorrangigen Aufgaben. Unsere Soldaten, die mit dem weit verbreiteten Einsatz von FPVDrohnen durch den Feind auf dem Schlachtfeld konfrontiert sind, benötigen hochmoderne taktische REW-Systeme, um ein kontinuierliches funkelektronisches Störfeld zu schaffen.
Auf diese Weise werden unsere Soldaten an der Frontlinie sicherer sein. Ich möchte aber auch betonen, dass die im Ausland hergestellten Raketenwaffen, Artilleriesysteme, MLRS und gepanzerten Fahrzeuge sich auf dem Schlachtfeld als äußerst wirksam erwiesen haben. Sie sind den russischen Modellen überlegen. Die weitere Entwicklung des Geschehens an der Front hängt weitgehend vom Umfang der neuen militärischen Unterstützungspakete unserer Partner ab.
Wir können nicht mit Russland konkurrieren, was die Anzahl der Geschosse, Panzer und Soldaten angeht. Aber wir können uns durch Hightech-Waffen einen Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen.
Die gesamte Europäische Gemeinschaft muss sich darüber im Klaren sein, dass der Krieg in der Ukraine nicht weit von ihr entfernt ist.
Die Ukraine hat ihre eigene Produktion erhöht. Reicht das aus? Und kann sich Hightech gegen „Fleisch-Angriffe“, wie sie Russland durchführt, durchsetzen?
Die inländischen Unternehmen der Rüstungsindustrie produzieren nicht alle Arten und Typen, die die Streitkräfte benötigen. Ich meine damit moderne Luftverteidigungssysteme und die dazugehörigen Raketen, die in der Lage sind, ballistische Raketen zu treffen, Langstreckenmunition für MLRS, Kampfflugzeuge, Hubschrauber, Radar zur Batterieabwehr und so weiter. Wir diskutieren ständig mit unseren Partnern über die militärisch-technische Zusammenarbeit, um unsere Armee langfristig zu unterstützen. Gleichzeitig erhöhen wir weiterhin die Produktion unserer eigenen militärischen Ausrüstungsmodelle. Letztes Jahr, im Jahr 2023, haben die ukrainischen Unternehmen der Verteidigungsindustrie ihr Produktionsvolumen im Vergleich zu 2022 verdreifacht. Unsere Priorität ist die weitere Steigerung der Produktion und die Lokalisierung gemeinsamer internationaler Rüstungsproduktionsstätten in der Ukraine, um unsere Verteidigungskapazitäten in Zukunft deutlich zu verbessern. Die Produktion
neuer Ausrüstungen und Waffen hochzufahren und ihre Herstellung objektiv zu skalieren, stellt für unsere Hersteller eine große Herausforderung dar. So sind wir beispielsweise bei der Herstellung von Geschossen des Kalibers 155 mm auf die Lieferung knapper Treibladungspulver angewiesen, die unser Land nicht produziert. Viele unserer Unternehmen müssen technisch modernisiert werden.
Jetzt gibt es ja schon offen Pläne für Werksansiedelungen. Liegt die Zukunft in der Kooperation?
Es ist für unsere Partner von entscheidender Bedeutung, effektive Formen der
Produktionszusammenarbeit und neue Investitionsquellen für die ukrainische Rüstungsindustrie zu finden. Im militärischen Bereich stehen Technologien immer im Wettbewerb. Russland hat zum Beispiel einen Vorteil bei der Ressourcenbasis. Der Kreml hat die Unterstützung bestimmter Länder mit ihrer technologischen Produktionsbasis für militärische Ausrüstung.
Wir kennen bereits Beispiele für Waffenlieferungen aus dem Iran und Nordkorea. Die Russen haben die Fähigkeiten ihres militärisch-industriellen Komplexes maximiert. Sie setzen auf Quantität. Wir setzen auf den qualitativen Vorteil. Auf technologische Überlegenheit, auf neue Taktiken, auf unkonventionelle Führungsentscheidungen und auf das geschickte Handeln unserer Soldaten.
Werden Drohnen über den Ausgang des Krieges entscheiden?
Die Rolle von Drohnen nimmt eindeutig zu. Drohnen erfüllen ein breites Aufgabenspektrum – von der Aufklärung über die Fernerkundung bis hin zur Feuereinstellung und Zielerfassung. Drohnen verbessern die Artillerie erheblich, wenn sie beispielsweise ein Ziel „beleuchten“und das Feuer in Echtzeit anpassen – wodurch die Artillerie effektiver und kostengünstiger wird, auch was den Munitionsverbrauch angeht. Die Rolle von Drohnen bei der Erfüllung spezifischer Aufgaben wie Aufklärung, punktgenaue Angriffe auf feindliche Kräfte, Minenräumung, Logistik an der Frontlinie usw. ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Deshalb brauchen wir mehr Munition und UAVs sowie Robotersysteme im Allgemeinen. Und wir brauchen mehr ausgebildete Soldaten, die in der Lage sind, moderne Waffen effektiv einzusetzen.
Unter den Partnerstaaten kursiert immer wieder die Frage, ob die Ukraine diesen
Krieg gewinnen kann. Lassen Sie mich die Frage andersherum stellen. Kann Russland diesen Krieg gegen die Ukraine gewinnen?
Um bestimmte Ziele auf dem Schlachtfeld zu erreichen, ist entweder ein quantitativer Vorteil oder eine technologische Dominanz erforderlich.
Die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten ist eine ziemlich undankbare Aufgabe. Es lohnt sich, sich auf konkrete Maßnahmen zu konzentrieren. Die ukrainische Gesellschaft hat die Formel für den Weg der Ukraine zum Sieg bereits klar formuliert: Entweder du stehst an der Front oder du arbeitest für die Front! Und die gesamte Europäische Gemeinschaft muss sich darüber im Klaren sein, dass der Krieg in der Ukraine nicht weit von ihr entfernt ist. Um zu verhindern, dass ein russischer Soldat vor ihrer Haustür auftaucht, müssen sie den ukrainischen Streitkräften ständig die notwendige militärische Unterstützung zukommen lassen.