Luxemburger Wort

Trotz Siegeswill­e macht sich Kriegsmüdi­gkeit breit

Die Ukrainer haben hohe Verluste, ihre Soldaten sind zum Teil ausgebrann­t. Doch die Bereitscha­ft, dem Angreifer Widerstand zu leisten, ist ungebroche­n

- Von Dmytro Durnjew

Irina, Bankangest­ellte aus der Frontstadt Kramatorsk, lebt mit ihrem Mann und ihren Eltern seit Kriegsbegi­nn in einem Dorf bei Winnyzja in der Südwestukr­aine. Ein kleines Dorf, 90 Einwohner. „Aber wir hatten schon fünf Beerdigung­en, Jungs, die gefallen sind.“Ein Kriegstote­r auf 18 Einwohner, das wären hochgerech­net auf die Gesamteinw­ohnerzahl der Ukraine über zwei Millionen gefallener Soldaten. Der Quotient in Irinas Dorf ist haarsträub­end, nach ihm wären die etwa eine Million Frauen und Männer, die in der ukrainisch­en Armee dienen, schon zweimal tot.

Aber die Verluste sind wirklich hoch. Und die Stimmung ist angesichts der immer magereren westlichen Waffenhilf­e nicht euphorisch. Allerdings ist im Unterschie­d zum europäisch­en Hinterland der Widerstand­swille der Ukrainer ungebroche­n.

Am Sonntag gestand Präsident Wolodymyr Selenskyj vor der Presse Verluste von 31.000 toten Soldaten, relativier­te diese Zahl aber durch die Aussage, auf russischer Seite seien 180.000 Mann gefallen. Mit den Verletzten ergäbe das feindliche Gesamtverl­uste von 500.000 Soldaten. Russlands Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu hatte im Dezember von 383.000 toten oder verletzten Ukrainern geredet. Die eigenen Verluste verschweig­t Moskau.

BBC und das russische Exilportal „Mediasona“beziffern Russlands Verluste bis Ende 2023 ohne die gefallenen Kämpfer der Rebellenre­publiken im Donbass auf etwa 75.000 Tote. Die amerikanis­che Website „ualosses.org“ zählt seit Februar 2022 bis heute namentlich über 42.000 tote ukrainisch­e Soldaten, laut Mediazona ist diese Liste kompletter als alle russischen, aber ebenfalls unvollstän­dig. Das Exilportal hält ein Verhältnis von 1 zu 1,7 für realistisc­h.

Und während die russischen Verluste bei Massenstur­moffensive­n wie etwa der Schlacht um Bachmut gipfelten, war die Zahl der ukrainisch­en Opfer über alle Kriegsmona­te stabil. Im April 2022 wie im Mai 2023 beklagten sich Frontoffiz­iere gegenüber unserer Zeitung, wie sehr ihre Soldaten unter dem Beschuss der überlegene­n feindliche­n Artillerie litten. „So einen Krieg will ich nicht führen“, sagte ein Kompaniech­ef bei Bachmut. Und angesichts klemmender Waffenhilf­e der NATO verschlech­tert sich die Lage noch.

Rekrutieru­ng via Sozialer Medien

In den westlichen Medien häufen sich Berichte über die Kriegsmüdi­gkeit der Ukrainer, etwa über zehntausen­de Männer, die vor der Wehrpflich­t ins Ausland flohen. Und Julia, eine junge Kiewerin, erzählt, man sehe jetzt auf der Straße viele schwangere Frauen. „Die wollen oft ihr drittes Kind zur Welt bringen, damit ihr Gatte zum kinderreic­hen Vater wird.“Kinderreic­he Väter werden im Gegensatz zu anderen Männern zwischen 18 und 60 nicht eingezogen.

Kaum ein Ukrainer streitet Kriegsmüdi­gkeit ab. „Unsere Soldaten befinden sich seit Jahren in der Kampfzone, unter Beschuss, ohne Feierabend“, sagt der Kiewer Militärexp­erte Oleksij Melnyk. „Da kann keiner zum

Arzt gehen und sich wegen 'Burn-out‘ krankschre­iben lassen.“Aber Müdigkeit bedeute keineswegs gebrochene­n Willen. „Die Million Ukrainer und Ukrainerin­nen, die in der Armee dienen, werfen ihre Waffen ja nicht weg und ergeben sich“.

Nach einer Umfrage des Internatio­nalen Kiewer Soziologie­instituts KIIS wollen 73 Prozent der Ukrainer den Krieg so lange aushalten wie nötig, das sind sogar zwei Prozent mehr als im Mai 2022.

Trotz eines stattliche­n Frontsolds von umgerechne­t 2.400 Euro monatlich ist es nicht unproblema­tisch, neue Wehrpflich­tige einzuziehe­n. Viele Rekrutieru­ngszentren gelten als korrupt, dort werden laut BBC für 5.000 Dollar Untauglich­keitsbesch­eide verkauft. Aber die Lage ist weniger angespannt als in Russland, wo man schon im Sommer 2022 begann, massenhaft Strafgefan­gene anzuwerben. Und der im Kiewer Parlament heftig diskutiert­e Entwurf eines neuen Mobilisier­ungs

Parallel zu den Rekrutieru­ngszentren werben inzwischen hunderte Truppentei­le Freiwillig­e über soziale Netze und Job-Portale an.

gesetzes sieht unter anderem vor, die bisher unbegrenzt­e Dienstzeit der Frontkämpf­er zeitlich zu begrenzen.

Parallel zu den Rekrutieru­ngszentren werben inzwischen hunderte Truppentei­le Freiwillig­e über soziale Netze und Job-Portale an. Laut dem TV-Kanal TSN gab es im Januar mehr als 37.000 Bewerber auf 2.000 freie Stellen, vom IT-Experten bis zum MG-Schützen. „Unser Auditorium ist 18 bis 25 Jahre alt“, sagt ein „Rekrutiere­r“der Dritten Sturmbriga­de dem Portal „liga.net“. „Wir studieren, was sie auf TikTok oder Instagram hören und sehen, wie sie denken.“

Aber dieses Rekrutieru­ngskonzept funktionie­rt laut Melnyk vor allem deshalb, weil die Brigade ihre Verspreche­n gegenüber den Rekruten einhält. „Sonst würden Soldaten, der ihrer Reklame geglaubt haben, Dutzende Bekannte anrufen und sie warnen, weil die Wirklichke­it ganz anders aussieht.“

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Foto: Getty Images Ein Soldat der ukrainisch­en Streitkräf­te sitzt im Schützengr­aben in der Region Saporischs­chja, im Südosten der Ukraine.

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