Trotz Siegeswille macht sich Kriegsmüdigkeit breit
Die Ukrainer haben hohe Verluste, ihre Soldaten sind zum Teil ausgebrannt. Doch die Bereitschaft, dem Angreifer Widerstand zu leisten, ist ungebrochen
Irina, Bankangestellte aus der Frontstadt Kramatorsk, lebt mit ihrem Mann und ihren Eltern seit Kriegsbeginn in einem Dorf bei Winnyzja in der Südwestukraine. Ein kleines Dorf, 90 Einwohner. „Aber wir hatten schon fünf Beerdigungen, Jungs, die gefallen sind.“Ein Kriegstoter auf 18 Einwohner, das wären hochgerechnet auf die Gesamteinwohnerzahl der Ukraine über zwei Millionen gefallener Soldaten. Der Quotient in Irinas Dorf ist haarsträubend, nach ihm wären die etwa eine Million Frauen und Männer, die in der ukrainischen Armee dienen, schon zweimal tot.
Aber die Verluste sind wirklich hoch. Und die Stimmung ist angesichts der immer magereren westlichen Waffenhilfe nicht euphorisch. Allerdings ist im Unterschied zum europäischen Hinterland der Widerstandswille der Ukrainer ungebrochen.
Am Sonntag gestand Präsident Wolodymyr Selenskyj vor der Presse Verluste von 31.000 toten Soldaten, relativierte diese Zahl aber durch die Aussage, auf russischer Seite seien 180.000 Mann gefallen. Mit den Verletzten ergäbe das feindliche Gesamtverluste von 500.000 Soldaten. Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu hatte im Dezember von 383.000 toten oder verletzten Ukrainern geredet. Die eigenen Verluste verschweigt Moskau.
BBC und das russische Exilportal „Mediasona“beziffern Russlands Verluste bis Ende 2023 ohne die gefallenen Kämpfer der Rebellenrepubliken im Donbass auf etwa 75.000 Tote. Die amerikanische Website „ualosses.org“ zählt seit Februar 2022 bis heute namentlich über 42.000 tote ukrainische Soldaten, laut Mediazona ist diese Liste kompletter als alle russischen, aber ebenfalls unvollständig. Das Exilportal hält ein Verhältnis von 1 zu 1,7 für realistisch.
Und während die russischen Verluste bei Massensturmoffensiven wie etwa der Schlacht um Bachmut gipfelten, war die Zahl der ukrainischen Opfer über alle Kriegsmonate stabil. Im April 2022 wie im Mai 2023 beklagten sich Frontoffiziere gegenüber unserer Zeitung, wie sehr ihre Soldaten unter dem Beschuss der überlegenen feindlichen Artillerie litten. „So einen Krieg will ich nicht führen“, sagte ein Kompaniechef bei Bachmut. Und angesichts klemmender Waffenhilfe der NATO verschlechtert sich die Lage noch.
Rekrutierung via Sozialer Medien
In den westlichen Medien häufen sich Berichte über die Kriegsmüdigkeit der Ukrainer, etwa über zehntausende Männer, die vor der Wehrpflicht ins Ausland flohen. Und Julia, eine junge Kiewerin, erzählt, man sehe jetzt auf der Straße viele schwangere Frauen. „Die wollen oft ihr drittes Kind zur Welt bringen, damit ihr Gatte zum kinderreichen Vater wird.“Kinderreiche Väter werden im Gegensatz zu anderen Männern zwischen 18 und 60 nicht eingezogen.
Kaum ein Ukrainer streitet Kriegsmüdigkeit ab. „Unsere Soldaten befinden sich seit Jahren in der Kampfzone, unter Beschuss, ohne Feierabend“, sagt der Kiewer Militärexperte Oleksij Melnyk. „Da kann keiner zum
Arzt gehen und sich wegen 'Burn-out‘ krankschreiben lassen.“Aber Müdigkeit bedeute keineswegs gebrochenen Willen. „Die Million Ukrainer und Ukrainerinnen, die in der Armee dienen, werfen ihre Waffen ja nicht weg und ergeben sich“.
Nach einer Umfrage des Internationalen Kiewer Soziologieinstituts KIIS wollen 73 Prozent der Ukrainer den Krieg so lange aushalten wie nötig, das sind sogar zwei Prozent mehr als im Mai 2022.
Trotz eines stattlichen Frontsolds von umgerechnet 2.400 Euro monatlich ist es nicht unproblematisch, neue Wehrpflichtige einzuziehen. Viele Rekrutierungszentren gelten als korrupt, dort werden laut BBC für 5.000 Dollar Untauglichkeitsbescheide verkauft. Aber die Lage ist weniger angespannt als in Russland, wo man schon im Sommer 2022 begann, massenhaft Strafgefangene anzuwerben. Und der im Kiewer Parlament heftig diskutierte Entwurf eines neuen Mobilisierungs
Parallel zu den Rekrutierungszentren werben inzwischen hunderte Truppenteile Freiwillige über soziale Netze und Job-Portale an.
gesetzes sieht unter anderem vor, die bisher unbegrenzte Dienstzeit der Frontkämpfer zeitlich zu begrenzen.
Parallel zu den Rekrutierungszentren werben inzwischen hunderte Truppenteile Freiwillige über soziale Netze und Job-Portale an. Laut dem TV-Kanal TSN gab es im Januar mehr als 37.000 Bewerber auf 2.000 freie Stellen, vom IT-Experten bis zum MG-Schützen. „Unser Auditorium ist 18 bis 25 Jahre alt“, sagt ein „Rekrutierer“der Dritten Sturmbrigade dem Portal „liga.net“. „Wir studieren, was sie auf TikTok oder Instagram hören und sehen, wie sie denken.“
Aber dieses Rekrutierungskonzept funktioniert laut Melnyk vor allem deshalb, weil die Brigade ihre Versprechen gegenüber den Rekruten einhält. „Sonst würden Soldaten, der ihrer Reklame geglaubt haben, Dutzende Bekannte anrufen und sie warnen, weil die Wirklichkeit ganz anders aussieht.“