Der Duft von Zimt
11
Der Grasbrook war eine sumpfige Insellandschaft auf der Elbe, die als große Viehweide genutzt wurde – nicht unbedingt ein typisches Ausflugsziel des Ehepaars Altmann. „Wieso fahren sie denn zum Brook?“
„Es sollen wohl wieder Waren verbrannt werden. Der Herr ist sehr aufgebracht. Und Frau Altmann würde sich freuen, wenn Sie ebenfalls mitkämen. Aber wir haben nicht viel Zeit.„“
So war das also. Sicherlich hatte Ida sich in dem großen Haus gelangweilt, ihren Mann überredet, sie mitzunehmen, und dann Josephine ins Spiel gebracht, um Gesellschaft zu haben. Von Philipp war der Vorschlag gewiss nicht gekommen. Aufgrund ihres unterschiedlichen gesellschaftlichen Standes fiel der Kontakt zwischen ihnen oft ungelenk und steif aus.
Josephine seufzte. „Natürlich. Ich komme„“, sagte sie dennoch, ihrer Schwester zuliebe.
Rasch griff sie nach ihrem Schultertuch, ihrer gelben Schute und dem kleinen Beutel, den sie mit einer Kordel an ihrem Kleid festbinden konnte und in dem sie ihren Schlüssel und etwas Geld aufbewahrte. Dann lief sie hinter dem Dienstmädchen nach draußen, wo die Kutsche der Altmanns schon wartete. Ihre Eleganz hatte in diesen dunklen Tagen etwas Unwirkliches. Auf zwei großen Rädern hinten und zwei kleinen vorn thronte ein gedeckter Wagen mit reich verzierten Holztüren und Glasfenstern. Dahinter sah sie das Gesicht ihrer Schwester.
Der Kutscher sprang von seinem Sitz herunter und öffnete ihr die Tür. Während sie einstieg, sah sie aus den Augenwinkeln, dass Fräulein Weber ihrerseits auf den Bock kletterte. Die Ärmste – und das bei dem nassen Wetter!
Sobald Josephine einstieg, setzte ein kräftiges Kläffen ein.
„Josephine, meine Liebe„“, sagte Ida, als würde sie den Hund gar nicht hören, und drückte ihr kurz die Hand. Ihre Finger waren ganz kalt, dennoch war es eine liebevolle, warme Geste. „Schön, dass du mitfährst. Komm, setz dich hier neben mich.„“
„Guten Tag„“, grüßte Philipp Altmann, gerade so laut, dass man ihn durch das Hundegebell hören konnte, und nickte nur einmal kurz in ihre Richtung, bevor er wieder aus dem Fenster schaute. In gemächlichem Tempo verließen sie die Rosenstraße mit den kleinen Gastwirtschaften, Ladengeschäften und Thielemanns Backhus. Während sie die Apotheke im Eckhaus passierten und über den Pferdemarkt in Richtung Hafen fuhren, betrachtete Josephine ihre Schwester und ihren Schwager. Sie waren ein ungleiches Paar, was nicht allein an dem Altersunterschied von elf Jahren lag. Alles an Ida war klein: ihre Füße in den Lackschuhen, ihre Hände, die in fein bestickten Handschuhen steckten, ihr schmaler Körper in dem reich verzierten, wallenden Kleid, ihr Kopf, mit dem aufwendig frisierten Haar und einem eleganten Hut geschmückt, die Stupsnase und die eng beieinanderstehenden Augen. Ein wenig verkniffen schaute sie Josephine an, und ihr Gesicht sah dabei ganz ähnlich aus wie das der kleinen, weißen Malteserhündin, die sie auf den Knien balancierte und so lange streichelte, bis die endlich aufhörte zu kläffen. Das Tier machte Anstalten, von Idas Schoß auf Josephines zu wechseln, doch Ida hielt es fest. Josephine hätte nichts dagegen gehabt, ein wenig mit dem Tier zu kuscheln. Doch ihre
Schwester wollte es meist ganz für sich allein.
„Marie-Antoinette!„“, tadelte sie die Hündin nun streng. Anfangs hatte sich Josephine über den Namen gewundert, doch als sie ihre Schwester danach gefragt hatte, hatte diese nur geseufzt. „Du weißt wirklich nichts von der Welt, habe ich recht?„“Daraufhin hatte Josephine nicht weiter nachgefragt.
Im Gegensatz zu Ida war Philipp ein großer, massiger Kerl. Er füllte mehr als zwei Drittel der Bank aus. Sein Rock spannte gefährlich, und seine Schultern drohten, die Fensterscheibe zu zerdrücken. Nur sein Kopf war ebenso klein und rund wie der Idas und wollte nicht so recht zu seinem Körper passen. Gemeinsam mit der großen Nase, die daraus hervorragte wie der Henkel aus einer Kaffeetasse, verlieh er seinem Äußeren eine unfreiwillige Komik. Er war wahrlich kein schöner Mann, doch wenn er gute Laune hatte und es darauf anlegte, konnte er die Menschen mit seinem Charme um den Finger wickeln. Sogar Josephine hatte schon Gespräche mit ihm geführt, in denen sie geglaubt hatte, noch niemand habe sie so ernst genommen wie er.
In diesem Moment aber schien er tief in Gedanken versunken zu sein.
„Ist alles in Ordnung?„“, fragte Josephine ihre Schwester leise.
„Natürlich, natürlich„“, sagte Ida mit ihrer hohen Stimme.
„Wir machen nur einen kleinen Ausflug und … da dachte ich, du möchtest vielleicht mit.„“
Sie setzte ein gezwungenes Lächeln auf, und Josephine wusste, dass sie die Wahrheit in diesem Moment nicht aus ihr herauslocken konnte. Nicht, während Philipp neben ihr saß. Kurz drohte sich Schweigen in der Kutsche auszubreiten. Dann fragte Ida: „Wie geht es Onkel Fritz?„“„Ich bin mir nicht sicher.„“Josephine seufzte. „In letzter Zeit ist er sehr angespannt.„“
„Ihr habt es nicht leicht mit der Bäckerei, habe ich recht?„“
Marie-Antoinette reckte die Nase in die Luft, schnupperte und versuchte, sich aus Idas Händen zu winden. Josephine zwang sich dazu, sich dennoch auf das Gespräch zu konzentrieren, und schüttelte den Kopf.
„In letzter Zeit gehen uns sogar Butter und Eier aus. Zucker hatten wir schon lange nicht mehr. Die Leute kommen weiterhin zu uns, aber meistens haben wir nur Brot. Und auch davon nicht genug.„“„Es sind schwere Zeiten.„“Josephine senkte den Blick. Ida hatte recht, doch sie beide wussten, dass die Zeiten nicht für alle schwer waren. Ganz offensichtlich ging es den Altmanns weiterhin prächtig. Bevor sie geheiratet hatten, war Philipp noch ein einfacher Seidenhändler gewesen.
(Fortsetzung folgt)