Jelena Kostjutschenkos ungeschönter Blick auf Putins Russland
Die Journalistin der „Nowaja Gaseta“beschreibt in ihrem Buch „Das Land, das ich liebe“ihre Heimat Russland aus der Sicht derer, die systematisch zum Schweigen gebracht werden
Seit sie 17 ist, hat Jelena Kostjutschenko für die „Nowaja Gaseta“gearbeitet. Sie war eine preisgekrönte Stimme des unabhängigen Blattes in Russland, dessen Devise lautet: „Wir haben die gleichen Buchstaben wie alle, aber andere Worte.“Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wird nun die Zeitung nicht mehr in Russland gedruckt. Am 28. März 2022 stellte die „Nowaja Gaseta“ihr Erscheinen ein, um einem drohenden Publikationsverbot zuvorzukommen. Heute wird das Blatt von nach Europa geflohenen Redakteuren betrieben.
Auch Jelena Kostjutschenko musste fliehen. Ihr Buch, „Das Land, das ich liebe – Wie es wirklich ist, in Russland zu leben“, hat sie in ihrem Berliner Exil geschrieben. Die Stadt hat sie aufgenommen und erlaubt ihr, das zu sagen und zu schreiben, was sie für wichtig und richtig empfindet. „Kein einziges Mal wurde mir gesagt, mich träfe eine Schuld, weil ich Russin bin“, schreibt sie im Vorwort ihres Buches.
Der Titel „Das Land, das ich liebe“mag etwas irreführend sein. Wie ein Land lieben, das all diejenigen verachtet und verfolgt, die eine andere Meinung haben? Die Journalistin meint aber, die Liebe zu einem Land – wahrhaftig und zutiefst – müsse auch darin bestehen, es kritisch und mit einem strengen und unvoreingenommenen Blick zu betrachten. Dieses Russland hat nichts gemein mit Putins Russland, und die Liebe zu ihrer Heimat lässt sie sich von keinem nehmen, auch nicht von Putin.
Reportagen über ein „verlorenes Land“
Jelena Kostjutschenko hat besonders packende Reportagen aus Russland in ihr Buch gepackt. Es sind teils bereits veröffentlichte Arbeiten und Recherchen aus „einem verlorenen Land“, wie sie es nennt, und über ein Volk, das nicht weiß wohin. Beim Lesen fühlt man sich manchmal in die Bühnenstücke von Anton Tschechow versetzt und man denkt: Seit Tschechow hat sich dort nicht viel verändert. Die Russen leben in einem Kaff, langweilen sich zu Tode, versinken im Suff, prügeln sich zu Tode, begehen Selbstmord …
Dieser zerstörerische Fatalismus zieht sich quer durch das Buch. Ein Beispiel unter vielen:
Kostjutschenko hat jene Menschen porträtiert, die entlang der Sapsan-Bahnlinie MoskauSankt-Petersburg leben, einem Hochgeschwindigkeitszug, der die regionalen Zugverbindungen verdrängt hat. Und so nutzen die Menschen die Sapan-Bahnstrecke auch als Fußweg, um ins nächste Dorf zu gelangen. Anna Tscheslawowna wohnt an dieser Bahn und hat in 20 Jahren allein an „ihrem“Streckenabschnitt um die hundert Menschen eingesammelt, die vom Schnellzug erfasst wurden. „Wenn einer was getrunken hat und auf den Gleisen läuft, stehen die Chancen, dass er ankommt, 50:50“, meint sie.
Als Journalistin war Kostyuchenko vor allem auf der Suche nach Menschen am Rande der russischen Gesellschaft: jugendliche Ausreißer, Prostituierte auf der Straße, Insassen einer psychiatrischen Anstalt und eine selbstmordgefährdete indigene Bevölkerung im eisigen Norden Russlands. Die russischen Behörden versuchten immer wieder, ihre Recherchen zu unterbinden. Im Jahr 2020 flog sie in die abgelegene arktische Bergbaustadt Norilsk, um dort eine Umweltkatastrophe zu untersuchen. Sie wanderte mit einer Gruppe Greenpeace-Aktivisten durch die Tundra, sammelte Proben aus einem verschmutzten Fluss und floh vor dem FSB, der Geheimpolizei des Kremls. Dennoch gelang es jemandem, ihr grüne Farbe über den Kopf zu kippen – zur Einschüchterung.
Ein Dorn im Auge von Putins Regime
Als Kind der Provinz wuchs Jelena Kostjutschenko in den 1990er-Jahren in einer Familie auf, die der alten Sowjetunion nachtrauerte. Ihre Mutter glaubt auch heute noch der staatlichen Propaganda. Sie entdeckte den Journalismus im Alter von 14 Jahren durch die Schriften der „Nowaja Gaseta“-Journalistin Anna Politkowskaja. Sie und fünf weitere Mitarbeitende – Igor Domnikow, Juri Schtschekotschichin, Stanislaw Markelow, Anastasia Baburowa, Natalia Estemirowa – wurden vom Regime ermordet. Wer für die „Nowaja Gaseta“schrieb, lebte gefährlich. Der Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow wurde als ausländischer Agent eingestuft. Mit 17 trat Kostjutschenko in die Zeitung ein, die ihre intellektuelle Heimat wurde. „Wir waren eine Sekte, eine Familie“, schreibt sie.
In einem letzten Kapitel ihres Buches beschreibt Jelena Kostjutschenko das Redaktionsleben, die Redaktionsräume. Sie arbeitete im Büro 305, und auf ihrem Rechner lagen drei Kugeln und zwei Splitter, die sie knapp verfehlt hatten. „Draußen keimte der Faschismus. Wir beschrieben ihn, so gut es ging. Unsere Zeitung erschien dreimal wöchentlich, landesweit, die Webseite wurde rund um die Uhr aktualisiert. Wir machten unsere Arbeit gut, wir
: Wir waren eine Sekte, eine Familie. Jelena Kostjutschenko, die Journalistin über die „Nowaja Gaseta“
gaben uns große Mühe. Draußen war es furchteinflößend, düster, traurig. Hier war es warm.“Nach einer Kopfverletzung hatte sie es verlernt, Texte zu schreiben und saß unzählige Stunden weinend am Schreibtisch, starr vor Angst, dass sie es nie wieder könne.
Entsetzt über den „Abstieg ihres Landes in den Faschismus“reiste Jelena Kostjutschenko im Frühjahr 2022 in die Ukraine. Vier Wochen lang berichtete sie von der Frontlinie. Während ihrer Abwesenheit verabschiedete die Staatsduma Gesetze zum Verbot von „Fake News“. Genaue Artikel über den Krieg, die Zerstörung friedlicher Städte und die Ermordung von Zivilisten wurden verboten. Damit hörten die letzten freien Medien in Russland auf zu existieren.
Die Journalistin fuhr nach Süden, wo russische Truppen die Stadt Cherson eingenommen haben und auf Mykolaiv vorrücken, und interviewte Einwohner. Dmitri Butym, einer von vielen: „Veronika war in der Küche und hat etwas zu essen warm gemacht. Arina war draußen im Hof. Beide hatten nicht die geringste Chance. Die Jüngere war sofort tot – ein Splitter ins Herz. Die Ältere hat man wiederbelebt, ihr Herz hat noch zwei Minuten geschlagen, aber es nicht geschafft. Ihre Mutter ist im Krankenhaus, ein Splitter ist in der Hüfte, sie hat innere Verletzungen. Entschuldigen Sie mich. Ich möchte jetzt nur meine Kinder beerdigen.“
Noch während sie in der Ukraine war, bekam Kostjutschenko einen Anruf ihres Chefredakteurs: Sie dürfe auf keinen Fall nach Moskau zurückkehren, man werde sie umbringen. Im März 2022 floh sie nach Deutschland. Auch dort hat man versucht, sie zu vergiften. Der Anschlag scheiterte. Nun muss sie permanent den Wohnsitz wechseln.