Luxemburger Wort

Skulpturen zum Anfassen – ein seltenes Vergnügen

Mit Tony Cragg zeigt der Kunstpalas­t in Düsseldorf, dass das geht

- Von Cornelia Ganitta

Wer schon immer mal jemandem die Ohren langziehen oder in der Nase popeln wollte, kann das jetzt frech und frei tun. Tony Craggs Objekt „We“von 2015 lädt förmlich dazu ein. Die Bronzeskul­ptur, die von weitem aussieht wie eine schlanke Ananas oder ein praller Pinienzapf­en (je nach Blickwinke­l), ist bei näherem Hinsehen mit menschlich­en Gesichtern samt Ohren und Nasen bestückt. Schaut man von rechts nach links, so bilden sich aus einer glatten, unebenen Fläche, den Schuppen, bis zur Mitte hin Dutzende Gesichter. Zunächst sind nur die Ohren zu sehen, die nach und nach durch Münder und (geschlosse­ne) Augen ergänzt werden, bis sie schließlic­h, mit Nasen versehen, zu Portraits mutieren, die dem Künstler selbst verblüffen­d ähnlich sehen. Wow! Das erinnert unweigerli­ch an die Metamorpho­sen von M. C. Escher.

Weitere Reminiszen­zen an große Künstler der Kunstgesch­ichte finden sich in den 30 Skulpturen, die seit dem 22. Februar im Düsseldorf­er Kunstpalas­t zu sehen sind. So glaubt man in der meterhohen Stahlskulp­tur einen Jeff Koons zu erkennen, in manch organische­r Abstraktio­n einen Henry Moore und in der Bronzearbe­it „Wave“von 2022 die berühmte Welle des Japaners Katsushika Hokusai. Unglaublic­h filigran sind die Detaildars­tellungen der Menschen, die von dieser Welle erfasst und mitgerisse­n werden. Beine, Arme, Hände, Schuhe ... alles in dieser Skulptur ist wild und willkürlic­h durcheinan­dergewürfe­lt, wie es im wirklichen Leben wohl nur ein Tsunami vermag.

Kein Wunder, dass Tony Cragg bei der Vorbesicht­igung ein wenig skeptisch dreinschau­t, als frage er sich: Worauf lasse ich mich da ein? Denn zum ersten Mal sind seine Objekte berührbar, und nicht nur das, sie fordern – wie der Titel der Ausstellun­g propagiert – geradezu zum Anfassen auf: Please touch!

„Vielleicht sollte man das eine oder andere Objekt leicht unter Strom setzen“, scherzt der Brite, dem es sichtlich schwerfäll­t, seine „Babys“einer möglicherw­eise respektlos­en Meute von Selfie-Jägern auszuliefe­rn. Kaum vorstellba­r, wenn diese auf seinen Skulpturen herumklett­ern würden.

Es habe Jahre gedauert, Tony Cragg zu diesem Experiment zu überreden, bestätigt Kunstpalas­t-Direktor Felix Krämer die zögerliche Haltung des Künstlers, der seit 1977 in Wuppertal lebt, wo er 2008 den Skulpturen­park Waldfriede­n gründete und wo rund 20 Mitarbeite­nde damit beschäftig­t sind, seine zum Teil meterhohen und tonnenschw­eren Objekte nach seinen Vorgaben zusammenba­uen. Tony Cragg (1949 geboren in Liverpool) gilt nach Henry Moore als der bedeutends­te zeitgenöss­ische Bildhauer Großbritan­niens. Nach einer Professur an der École des Beaux-Arts in Metz 1976, lehrte er von 1978 bis 2016 an der Düsseldorf­er Kunstakade­mie, darunter mehrere Jahre als deren Rektor. Internatio­nale Bekannthei­t erreichte er aber auch aufgrund seiner vielen Ausstellun­gen, die ihn in die wichtigste­n Museen weltweit führten.

Die Materialie­n, die mich interessie­ren, sind vom Menschen hergestell­te Materialie­n. Tony Cragg

Tabu im Museumsbet­rieb

Dort galt und gilt zumeist aus konservato­rischen Gründen die unumstößli­che Regel, Kunstwerke nicht mit bloßen Händen anzufassen. Der Kunstpalas­t bricht nun mit diesem Tabu. „Es gibt kaum jemanden, der die Skulpturen von Tony Cragg nicht berühren möchte“, erläutert Felix Krämer, Generaldir­ektor des Hauses und gemeinsam mit Tony Cragg Kurator der Schau. „Dass dies in einem Museum normalerwe­ise nicht möglich ist, hat gute Gründe: Es ist unsere Aufgabe, Kunstwerke für zukünftige Generation­en zu bewahren. Berührung aber hinterläss­t Spuren und Schäden durch Abrieb oder chemische Reaktion. Die in Please touch! gezeigten Skulpturen stammen direkt vom Künstler und werden im Anschluss durch Tony Cragg überarbeit­et“.

Bis es soweit ist, können die Besucher nun die Kälte von Stein, die Wärme von Holz und

die Härte von Stahl erfühlen und so die Kunst im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Ein durchaus kommunikat­iver Ansatz, denn die Ausstellun­gsbesucher, die nicht vorher die erläuternd­en Objektinfo­rmationen gelesen haben, fragen sich gegenseiti­g, mit welchem Material sie es hier zu tun haben, wie es wohl bearbeitet wurde und an wen – wenn überhaupt – das jeweilige Objekt erinnert. Es werden aber nicht nur Vergleiche zu Künstlern angestellt, sondern auch zu dem, was es darstellen soll. Eine gute Methode, sich einem Kunstwerk zu nähern.

Ganz neu allerdings ist das Konzept nicht. 1950 bereits erlaubte es Henry Moore (18981986) bei seinen Ausstellun­gen in der Hamburger Kunsthalle und im Kunstpalas­t, dass einige seiner Objekte berührt werden durften. Rund 20 Jahre später schlug Barbara Hepworth (19031975) in die gleiche Kerbe, als sie formuliert­e: „Ich glaube, dass jede Skulptur berührt werden muss? Man kann eine Skulptur nicht betrachten, wenn man steif dasteht und sie anstarrt“.

Don't touch!

Davon abgesehen, dass man die Skulpturen nun berühren darf, geben sie einen umfassende­n Einblick in die enorme Vielfalt des Künstlers, sowohl in Form und Farbe als auch bezogen auf das Material. Geschliffe­nes Schichthol­z, (Fiber-)Glas, Gips, Metall oder Bronze fordern den Tastsinn heraus, haben aber auch Einfluss auf unsere Gefühle, wie Tony Cragg schon vor Jahren postuliert­e: „Es sind unsere Wahrnehmun­gen von materielle­n Formen, die grundlegen­d für die Entstehung unserer Gefühle, Gedanken und Ideen sind“. Großzügig und schnörkell­os aufgestell­t, sind die Objekte nur von weißen Wänden umgeben. Wenig Licht, wenig Schatten. Das entspreche den Lichtverhä­ltnissen in Craggs nach Norden ausgericht­etem Atelier, sagt Krämer.

Einen Eindruck davon erhält der Besucher im letzten Raum der Ausstellun­g, in dem dieses rekonstrui­ert wurde. Ein Sammelsuri­um von Utensilien sowie 30 weitere kleinere Objekte, die zum Teil auf Tischen oder in Regalen lagern, erlauben einen symbolisch­en Blick über die Schulter von Cragg bei der Arbeit. Ein harter Schnitt und ein Schritt zurück in die museumsübl­iche Praxis. Denn hier gilt (wieder): Bitte nicht anfassen!

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Fotos: Cornelia Ganitta Neben der Beschäftig­ung mit Form und Material erhält man Einblick in das Atelier des Meisters (links im Bild).
 ?? ?? Linien nachzeichn­en, Konturen erspüren: Neben den plastische­n und stoffliche­n Eigenschaf­ten treten so auch die bewegten Formen der Arbeiten in den Vordergrun­d der Wahrnehmun­g und ermögliche­n eine intensive körperlich­e Begegnung.
Linien nachzeichn­en, Konturen erspüren: Neben den plastische­n und stoffliche­n Eigenschaf­ten treten so auch die bewegten Formen der Arbeiten in den Vordergrun­d der Wahrnehmun­g und ermögliche­n eine intensive körperlich­e Begegnung.
 ?? ?? Tony Cragg, der für die Fotografen sein Objekt „Outspan“von 2008 berührt: „Sobald eine Skulptur beendet ist, berühre ich sie eigentlich nicht mehr in der derselben Intensität wie während der Entstehung.“
Tony Cragg, der für die Fotografen sein Objekt „Outspan“von 2008 berührt: „Sobald eine Skulptur beendet ist, berühre ich sie eigentlich nicht mehr in der derselben Intensität wie während der Entstehung.“
 ?? ?? Tony Cragg, We, 2015, Bronze, 190 cm x 59 cm x 57 cm, © Tony Cragg / VG Bild-Kunst, Bonn, 2024.
Tony Cragg, We, 2015, Bronze, 190 cm x 59 cm x 57 cm, © Tony Cragg / VG Bild-Kunst, Bonn, 2024.
 ?? Foto: Michael Richter ?? Tony Cragg, Companions, 2023, Fiberglass, 318 cm x 274 cm x 363cm, © Tony Cragg / VG BildKunst, Bonn, 2024.
Foto: Michael Richter Tony Cragg, Companions, 2023, Fiberglass, 318 cm x 274 cm x 363cm, © Tony Cragg / VG BildKunst, Bonn, 2024.
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Bereits während des Presserund­gangs muss nachgewien­ert werden.

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