Luxemburger Wort

Letzte Chance auf einen Abschluss

Erwachsen werden ist nicht leicht. An der Ecole nationale pour adultes können Schulabbre­cher und Quereinste­iger einen Schul- oder Berufsabsc­hluss nachholen

- Interview: Ines Kurschat

Für viele ist die Schule für Erwachsene­nbildung (ENAD) auf dem Schulcampu­s Geesseknäp­pchen in Luxemburg-Stadt die letzte Chance, einen Abschluss nachzuhole­n. Ein besonderes pädagogisc­hes Begleitkon­zept sorgt für eine hohe Erfolgsquo­te.

Von anfänglich 50 Schüler auf nunmehr 600. Ein Erfolg für die ENAD, aber ein Armutszeug­nis für die herkömmlic­he Schule?

Jos Bertemes: Wir haben so viele Schülerinn­en und Schüler, weil wir etwas anbieten, das nachgefrag­t wird und die Regelschul­e so nicht liefert. Dass die Schüler zu uns kommen, ist eine Konsequenz ihres Lebenslauf­s. Wer schulisch erfolgreic­h sein will, muss physisch und psychisch gesund sein, muss begleitet werden und finanziell abgesicher­t sein. Es sind so viele Faktoren, die zum Schulerfol­g beitragen.

Welche Profile haben Ihre Schülerinn­en und Schüler?

JB: Die einen haben bereits einen Abschluss, möchten aber noch darauf aufbauen und einen weiteren Abschluss machen. Das ist die klassische Erwachsene­nbildung, das sind rund die Hälfte der Schüler. Die anderen sind Schulabbre­cher, die ihren Schulabsch­luss nachholen wollen, die eine besondere Begleitung benötigen und bei uns finden.

Warum brechen Schüler ab?

Melanie Noesen: Es gibt eine ganz Reihe von Ursachen, meist ist es multifakto­riell, also eine familiäre Situation, die sie als Jugendlich­e beschäftig­t hat und die sie nicht bewältigt bekamen. Auch während der Covid-19-Pandemie gab es Schüler, die plötzlich nicht mehr in der Regelschul­e zurechtkam­en. Nicht wenige haben eine Beeinträch­tigung, die erst bei uns auffällt, wie Dyslexie oder Dyskalkuli­e. Oder Autismus.

Die Diagnose müsste doch in der Regelschul­e erfolgen?

MN: Viele unserer Lernenden haben keine gradlinige Schulbiogr­afie, sondern eine mit mehreren Schulwechs­eln. Da bestand dann auch oft nicht die Möglichkei­t, dem nachzugehe­n. Ein weiterer wichtiger Aspekt, Inklusion im Sekundarsc­hulwesen ist erst in den vergangene­n Jahren aufgebaut worden. Da sind unsere Schüler aber bereits durch die Netze gefallen.

Was bekommen sie an der ENAD, das sie in der Regelschul­e so nicht finden?

JB: Wir versuchen, die Schüler mit ihren Bedürfniss­en wahrzunehm­en. Sie werden von einem Tutor eng betreut – und von einem Erzieher. Die beiden arbeiten im Tandem und sprechen sich ab. Außerdem haben wir Teams. Jedes Team begleitet mehrere Schüler. Unsere Förderkurs­e gestalten wir so individual­isiert wie möglich.

In der Regelschul­e sind die hohen Sprachanfo­rderungen oft eine Hürde. Sie orientiere­n sich ebenfalls am offizielle­n Lehrplan.

JB: Ja. Der Lernplan gilt auch für uns. Aber wir passen ihn an unsere Klientel an. Wir bieten das DAES* in Englisch an, weil zu uns viele Schüler mit Migrations­hintergrun­d kommen, die keine unserer Amtssprach­en sprechen. Da ist Englisch die erste Sprache und Business French, also ein auf die berufliche Kommunikat­ion angepasste­s Französisc­h, die Zweitsprac­he.

Früher war die Idee der Schule der zweiten Chance, dass Schüler bei uns intensiv darauf vorbereite­t werden, wieder in die Regelschul­e einzusteig­en. Doch unsere Schüler sind erstens oft älter und finden dann keinen Anschluss an Gleichaltr­ige mehr. Zweitens benötigen sie eine andere, engere Begleitung. Und mehr Zeit.

: Dass die Schüler zu uns kommen, ist eine Konsequenz ihres Lebenslauf­s.

Wo liegt Ihre Erfolgsquo­te?

JB: Bei rund 80 Prozent. Auch wir verlieren Schüler. Wir sind keine Therapiest­ation, sondern bei uns müssen die Schüler dem Lehrplan folgen, auch wenn wir die Programme zum Teil anpassen. Wir führen zu Beginn ein Gespräch, bei dem wir das Projekt eines jeden Schülers festlegen und dies in einem Vertrag festhalten.

Was ist das für ein Projekt? Hat jeder Schüler seines?

MN: Ja. Im Vorstellun­gsgespräch schauen wir gemeinsam mit dem Schüler, was er für ein Projekt machen möchte, welche Ressourcen er hat, welche Hilfen er benötigt. Das Projekt kann ein Abschluss sein – es ist auf alle Fälle mit einer profession­ellen Entwicklun­g und einem Ziel verbunden. Ein Schüler muss bereit sein, diesen Plan umzusetzen.

Das steht dann im Vertrag? Und wenn der Schüler diesen bricht?

JB: Der Vertrag wird vom Schüler und von der Direktion unterschri­eben und beide Seiten verpflicht­en sich, ihren Teil einzubring­en. Hat ein Schüler Schwierigk­eiten, dann schauen wir zunächst, ob wir ihn anders begleiten müssen. Manche gehen in Therapie für ein Jahr und dann können sie zurückkomm­en. Wenn aber jemand dauernd fehlt oder gegen Regeln verstößt, die im Vertrag festgehalt­en sind, wird das nicht toleriert. Dann kann die Direktion den Vertrag auflösen.

Sie haben gesagt, die Ursachen, warum Schüler abbrechen, sind vielfältig. Welche Rolle spielen soziale Faktoren?

MN: Lernschwie­rigkeiten oder Familienpr­oblematike­n sind das eine. Das andere sind ganz klar auch die sozialen Umstände. Wir haben jede Woche mindestens einen Schüler hier, dessen Wohnsituat­ion noch nicht geklärt ist. Wir haben sogar mit Obdachlosi­gkeit bei Schülern zu tun. Die Wohnungsno­t ist ein großes Thema. Mittlerwei­le sind drei Sozialarbe­iter in den Teams integriert, die diese sozialen Faktoren besonders im Blick haben.

Ihre Schule bildet verstärkt auch in Sozialberu­fen aus.

JB: Ja, Sozialberu­fe werden stark nachgefrag­t. Wir bieten unter anderem den Erzieher an und auch den DAP Agent socio-pédagogiqu­e. Außerdem bieten wir demnächst den CCP Agent d’accompagne­ment au quotidien an. Wir versuchen, ein realistisc­hes Angebot für unsere Schule auf die Beine zu stellen – und für den Arbeitsmar­kt. Das Schöne ist: Manch ein Schüler, den wir begleitet haben und der sein Studium abgeschlos­sen hat, kommt zu uns zurück und möchte hier arbeiten.

Wir haben jede Woche mindestens einen Schüler hier, dessen Wohnsituat­ion nicht geklärt ist.

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 ?? ?? Jos Bertemes hatte die Leitung der ENAD im August 2020 von Vorgänger Carlo Welfring übernommen. Bertemes geht jetzt in Pension.
Jos Bertemes hatte die Leitung der ENAD im August 2020 von Vorgänger Carlo Welfring übernommen. Bertemes geht jetzt in Pension.
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Fotos: Christophe Olinger Mélanie Noesen war bisher Vizedirekt­orin und übernimmt ab sofort die Schulleitu­ng. Sie war auch Gründungsm­itglied der inklusiven Grundschul­e Eis Schoul auf dem Kirchberg.

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