Warum Putin über die „Vernichtung der Zivilisation“spricht
Der russische Präsident hat seine jährliche Rede zur Lage der Nation gehalten. Seine Feindbilder sind klar. Aber es gibt auch Themen, zu denen er lieber schweigt
Leonid Sluzkij strahlte, klatschte mit hocherhobenen Händen. Der Präsidentschaftskandidat der nationalpopulistischen Partei LDPR begeisterte sich demonstrativ an den Worten seines formalen Hauptkonkurrenten Wladimir Putins. Aber auch der Amtsinhaber selbst ließ keinen Zweifel, dass man in zu heroischen Zeiten lebt, um seine Wiederwahl infrage zu stellen. Im gerechten Kampf um Russlands Souveränität und das Überleben der Landsleute in der Ostukraine, so Putin, spielten die entscheidende Rolle „unsere Bürger“, ihre Geschlossenheit und Hingabe für die Heimat. „Wir sind eine große Familie.“
Putin hielt im Moskauer Gostinnyj Dwor seine alljährliche Botschaft an beide Kammern des russischen Parlaments. Vorher waren zahlreiche Straßen im Stadtzentrum gesperrt worden, während die Kinos in etwa 20 russischen Städten öffneten, um den unumstrittenen Star der vaterländischen Politik ebenso live auszustrahlen wie die Staatsfernsehsender. Auch in diversen Universitätshörsälen lief Putins Rede vor einem wohl nicht ganz freiwilligen Studentenpublikum.
Ein 127-Minuten-Monolog, der bereits das politische Programm Wladimir Putins für seine nächsten sechs Amtsjahre darstellte. Einige seiner Zuhörer im Saal wirkten ermatteter als der Redner selbst. Putin überschwemmte sie wie in den Vorjahren mit Erfolgsmeldungen: „Russland ist die stärkste Wirtschaft Europas gemessen am BIP in Parität zum Kaufwert“. Auch seine Projekte und Ziele waren zahlreich und kühn.
Feindbild „böser, dummer Westen“
Von vielen ist Russland bisher weit entfernt. Komplette Mülltrennung, hundert neue Industrieparks im ganzen Land, 40.000 neue Autobusse für die Provinzen, eine Verzehnfachung der Rechenkazapität aller vaterländischen „Supercomputer“, Steigerung der Investitionen in die „Schlüsselindustrien“um 70 Prozent. Bis 2028 würden die BRICS-Länder schon 37 Prozent des globalen Bruttosozialproduktes liefern, der Anteil der G7 aber sinke bis dahin auf 28 Prozent.
In Russland aber müsse die kinderreiche Familie „zur Norm und Philosophie“des gesellschaftlichen Lebens werden. Und künftig werde man im Programm „Zeit der
Helden“Soldaten und Veteranen von der Ukraine-Front zur neuen Elite, „zu Regierungsmitgliedern und Regionaloberhäuptern“ausbilden. Weil sie Russland tatsächlich dienten.
Den übrigen Russen versprach Putin günstige Hypothekenkredite und Sparzertifikate, blieb dabei aber unkonkret. Die Befürchtungen vieler Unternehmer, dass nach den Wahlen die Steuern stark erhöht werden, bestätigte er mit der Ankündigung einer „gerechteren Verteilung der Steuerlast in Richtung der Firmen und Personen mit hohen Einnahmen“.
Aber als gedanklicher Hintergrund für all das diente das Feindbild vom bösen und dummen Westen, das der Staatschef zu Beginn seines Auftritts wieder einmal aufgebaut hatte. Der Westen wolle Russlands Entwicklung nicht nur eindämmen, sondern es in einen „aussterbenden Raum“verwandeln, so Putin. Die Behauptungen des Gegners, Russland könnte Europa angreifen, seien völliger Schwachsinn.
Der Wink mit der Atomrakete gehört inzwischen zu den Standards Putinscher Auftritte.
Schweigen über Transnistrien
Im Westen lebten Menschen, die nie schwere Prüfungen erlebt hätten. Im Gegensatz zu den Russen hätten sie vergessen, was Krieg ist, für sie seien das alles irgendwelche Trickfilme. „Und alles, was sie sich jetzt ausdenken, womit sie die Welt in Angst versetzen, begreifen sie nicht, dass das real einen Konflikt unter Einsatz von Atomwaffen bedeuten kann, also die Vernichtung der Zivilisation?“Der Wink mit der Atomrakete gehört inzwischen zu den Standards Putinscher Auftritte. Dafür vermied Putin das Thema Transnistrien völlig. Am Vortag hatte das Parlament der moldawischen Rebellenrepublik Moskau um Schutz vor einem angeblichen „Wirtschaftsblockade“der Moldau gegen Transnistrien gebeten, manche Beobachter befürchteten danach eine militärische Reaktion des Kremls. Aber Putin, der sonst gern auf einen Schockeffekt aus ist, schwieg.
Zu den Leerstellen in seinem neuen Sechsjahresplan gehörte auch die „Kriegsspezialoperation“gegen die Ukraine selbst. Obwohl da durchaus Aufklärungsbedarf besteht. Nach einer neuen Umfrage der Meinungsforschungsgruppe Russian Field können knapp 59 Prozent der Russen nicht sagen, welche Ziele ihre Armee in der Ukraine bisher erreicht hat. „Nicht wir haben den Krieg im Donbass angefangen“, behauptete Putin. „Aber wir tun alles, um ihn zu beenden.“Es war wohl das schwammigste Ziel, das der Präsident am Donnerstag formulierte.