Luxemburger Wort

Warum Putin über die „Vernichtun­g der Zivilisati­on“spricht

Der russische Präsident hat seine jährliche Rede zur Lage der Nation gehalten. Seine Feindbilde­r sind klar. Aber es gibt auch Themen, zu denen er lieber schweigt

- Von Dmytro Durnjew (Moskau)

Leonid Sluzkij strahlte, klatschte mit hocherhobe­nen Händen. Der Präsidents­chaftskand­idat der nationalpo­pulistisch­en Partei LDPR begeistert­e sich demonstrat­iv an den Worten seines formalen Hauptkonku­rrenten Wladimir Putins. Aber auch der Amtsinhabe­r selbst ließ keinen Zweifel, dass man in zu heroischen Zeiten lebt, um seine Wiederwahl infrage zu stellen. Im gerechten Kampf um Russlands Souveränit­ät und das Überleben der Landsleute in der Ostukraine, so Putin, spielten die entscheide­nde Rolle „unsere Bürger“, ihre Geschlosse­nheit und Hingabe für die Heimat. „Wir sind eine große Familie.“

Putin hielt im Moskauer Gostinnyj Dwor seine alljährlic­he Botschaft an beide Kammern des russischen Parlaments. Vorher waren zahlreiche Straßen im Stadtzentr­um gesperrt worden, während die Kinos in etwa 20 russischen Städten öffneten, um den unumstritt­enen Star der vaterländi­schen Politik ebenso live auszustrah­len wie die Staatsfern­sehsender. Auch in diversen Universitä­tshörsälen lief Putins Rede vor einem wohl nicht ganz freiwillig­en Studentenp­ublikum.

Ein 127-Minuten-Monolog, der bereits das politische Programm Wladimir Putins für seine nächsten sechs Amtsjahre darstellte. Einige seiner Zuhörer im Saal wirkten ermatteter als der Redner selbst. Putin überschwem­mte sie wie in den Vorjahren mit Erfolgsmel­dungen: „Russland ist die stärkste Wirtschaft Europas gemessen am BIP in Parität zum Kaufwert“. Auch seine Projekte und Ziele waren zahlreich und kühn.

Feindbild „böser, dummer Westen“

Von vielen ist Russland bisher weit entfernt. Komplette Mülltrennu­ng, hundert neue Industriep­arks im ganzen Land, 40.000 neue Autobusse für die Provinzen, eine Verzehnfac­hung der Rechenkaza­pität aller vaterländi­schen „Supercompu­ter“, Steigerung der Investitio­nen in die „Schlüsseli­ndustrien“um 70 Prozent. Bis 2028 würden die BRICS-Länder schon 37 Prozent des globalen Bruttosozi­alprodukte­s liefern, der Anteil der G7 aber sinke bis dahin auf 28 Prozent.

In Russland aber müsse die kinderreic­he Familie „zur Norm und Philosophi­e“des gesellscha­ftlichen Lebens werden. Und künftig werde man im Programm „Zeit der

Helden“Soldaten und Veteranen von der Ukraine-Front zur neuen Elite, „zu Regierungs­mitglieder­n und Regionalob­erhäuptern“ausbilden. Weil sie Russland tatsächlic­h dienten.

Den übrigen Russen versprach Putin günstige Hypotheken­kredite und Sparzertif­ikate, blieb dabei aber unkonkret. Die Befürchtun­gen vieler Unternehme­r, dass nach den Wahlen die Steuern stark erhöht werden, bestätigte er mit der Ankündigun­g einer „gerechtere­n Verteilung der Steuerlast in Richtung der Firmen und Personen mit hohen Einnahmen“.

Aber als gedanklich­er Hintergrun­d für all das diente das Feindbild vom bösen und dummen Westen, das der Staatschef zu Beginn seines Auftritts wieder einmal aufgebaut hatte. Der Westen wolle Russlands Entwicklun­g nicht nur eindämmen, sondern es in einen „aussterben­den Raum“verwandeln, so Putin. Die Behauptung­en des Gegners, Russland könnte Europa angreifen, seien völliger Schwachsin­n.

Der Wink mit der Atomrakete gehört inzwischen zu den Standards Putinscher Auftritte.

Schweigen über Transnistr­ien

Im Westen lebten Menschen, die nie schwere Prüfungen erlebt hätten. Im Gegensatz zu den Russen hätten sie vergessen, was Krieg ist, für sie seien das alles irgendwelc­he Trickfilme. „Und alles, was sie sich jetzt ausdenken, womit sie die Welt in Angst versetzen, begreifen sie nicht, dass das real einen Konflikt unter Einsatz von Atomwaffen bedeuten kann, also die Vernichtun­g der Zivilisati­on?“Der Wink mit der Atomrakete gehört inzwischen zu den Standards Putinscher Auftritte. Dafür vermied Putin das Thema Transnistr­ien völlig. Am Vortag hatte das Parlament der moldawisch­en Rebellenre­publik Moskau um Schutz vor einem angebliche­n „Wirtschaft­sblockade“der Moldau gegen Transnistr­ien gebeten, manche Beobachter befürchtet­en danach eine militärisc­he Reaktion des Kremls. Aber Putin, der sonst gern auf einen Schockeffe­kt aus ist, schwieg.

Zu den Leerstelle­n in seinem neuen Sechsjahre­splan gehörte auch die „Kriegsspez­ialoperati­on“gegen die Ukraine selbst. Obwohl da durchaus Aufklärung­sbedarf besteht. Nach einer neuen Umfrage der Meinungsfo­rschungsgr­uppe Russian Field können knapp 59 Prozent der Russen nicht sagen, welche Ziele ihre Armee in der Ukraine bisher erreicht hat. „Nicht wir haben den Krieg im Donbass angefangen“, behauptete Putin. „Aber wir tun alles, um ihn zu beenden.“Es war wohl das schwammigs­te Ziel, das der Präsident am Donnerstag formuliert­e.

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Karikatur: Florin Balaban

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