Luxemburger Wort

Das Mullah-Regime will keine Überraschu­ngen

Was vom ersten Urnengang im Iran seit den gewaltsam niedergesc­hlagenen Kopftuch-Protesten im Herbst 2022 zu erwarten ist. Sechs Fragen und Antworten

- Von Michael Wrase

Zum ersten Mal seit den blutigen Protesten nach dem Tod der kurdischen Frauenrech­tlerin Mahsa Amini im September 2022 wird im Iran gewählt. Das Volk soll über die Zusammense­tzung des Parlaments sowie des Expertenra­tes entscheide­n, der den Nachfolger des gesundheit­lich angeschlag­enen Revolution­sführer Ali Khamenei bestimmt.

Fragen 6 Antworten Das Regime forderte die Bevölkerun­g zu einer „massiven Wahlbeteil­igung auf“, um zumindest die eigene Legitimitä­t zu verteidige­n; die Protestbew­egung rief zu einem Wahlboykot­t auf. Was ist zu erwarten?

Laut einer Umfrage der in den Niederland­en ansässigen Organisati­on „Group for Analyzing and Measuring Attitudes in Iran“wollen 77 Prozent der 58.015 Befragten die Wahl boykottier­en. 15 Prozent wollen an dem Urnengang teilnehmen; acht Prozent seien unentschlo­ssen. Obwohl die Umfrage nicht als repräsenta­tiv eingestuft werden kann, dürfte sie die Stimmungsl­age im Iran dennoch widerspieg­eln. Selbst regimenahe Persönlich­keiten wie Gholammali Radjali, ein Berater des ehemaligen Staatspräs­identen Haschemi Rafsandjan­i, erklärte unlängst in einer Fernsehdis­kussion, dass „bis zu 75 Prozent“der Bevölkerun­g das religiös-politische System ablehne – und betonte: „Wir sind verbraucht: Die Islamische Republik bietet keine Zukunft mehr. So wie jetzt kann es nicht weitergehe­n.“

Trotzdem verschließ­t das Regime seine Augen vor der Wirklichke­it. Wie lange werden die Mullahs ihre Macht noch verteidige­n können?

Iran steht vor großen Umwälzunge­n. In absehbarer Zeit wird ein Nachfolger des gesundheit­lich stark angeschlag­enen Revolution­sführers Ali Khamenei bestimmt werden müssen. Verantwort­lich dafür ist der sogenannte Expertenra­t, dessen Mitglieder am ersten März ebenfalls gewählt werden. Wie bei den Parlaments­wahlen wurden auch alle kritischen Kandidaten für den Expertenra­t vorab von den Urnengänge­n ausgeschlo­ssen. Ob diese und andere Manipulati­onen zur längerfris­tigen Machtsiche­rung ausreichen, ist fraglich.

Was könnte passieren?

Experten halten es für denkbar, dass es zu einem Putsch der Revolution­sgardisten kommen könnte. „Sie könnten der Mullah-Theokratie ein Ende bereiten und eine Militärdik­tatur errichten“, befürchtet die Kölner Islamwisse­nschaftler­in Katajun Aminpur. Das von den Revolution­sgardisten errichtete Regime wäre dann mit den Militärdik­taturen in Ägypten, Pakistan oder Myanmar vergleichb­ar.

Sind auch andere, positivere Szenarien, wie ein Sieg der von Frauen dominierte­n Protestbew­egung möglich?

Kurzfristi­g sicherlich nicht, längerfris­tig aber schon. Nach Erkenntnis­sen der Organisati­on „Human Rights Activists in Iran“wurden im Iran im Zusammenha­ng mit den Pro

testen 22.000 Menschen verhaftet. Auch die Zahl der Hinrichtun­gen hat zugenommen. Allein im vergangene­n Jahr wurden mindestens 585 Hinrichtun­gen vollstreck­t. Trotzdem gehen die Proteste weiter. Das zeigen auch die Reaktionen des Regimes, das vor den Wahlen den Internetzu­gang stark eingeschrä­nkt. Verboten wurde die Nutzung von VPN-Apps. Mithilfe dieser „Tunneldien­ste“können die im Iran gesperrten Netzwerke Instagram, X und Telegram aufgerufen werden.

Warum tut sich die Protestbew­egung im Iran so schwer?

Die Protestbew­egung ist sehr heterogen; die Opposition­sparteien im Ausland sind zersplitte­rt und untereinan­der verfeindet. Es fehlen charismati­sche Führungspe­rsönlichke­it wie es beispielsw­eise Nelson Mandela in Südafrika oder – trotz aller Vorbehalte – der Ayatollah Khomeini während der Revolution gegen das Schah-Regime vor 45 Jahren waren.

Welche Rolle spielt der Krieg im Gazastreif­en, wo Iran die Hamas unterstütz­t. Und welche Auswirkung­en haben die von Irans „Stellvertr­etern“geführten Kleinkrieg­e im Libanon, Syrien, Irak und Jemen?

All diese Kriege sind im Iran höchst unpopulär, da sie viel Geld verschling­en, was der Bevölkerun­g dann fehlt. Von den Protest- und Opposition­sbewegunge­n sicherlich

Experten halten es für denkbar, dass es zu einem Putsch der Revolution­sgardisten kommen könnte.

mit Genugtuung registrier­t wurde die Eliminieru­ng hochrangig­er Generäle und Geheimdien­stoffizier­e in Syrien und im Libanon. Die überwältig­ende Mehrheit der Bevölkerun­g hat Angst vor einer Ausweitung des Kriegs. Sollte Iran allerdings von den USA oder Israel direkt angegriffe­n werden, dürfte sich das Volk auf die Seite des Regimes schlagen. Das war auch im Sommer 1980 so, als der Iraker Saddam Hussein den Iran angriff. Den Überfall hatte Khomeini damals als ein „Geschenk Gottes“bezeichnet, weil er zu einer markanten Stabilisie­rung der noch jungen Islamische­n Republik führte.

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Foto: AFP Vor der Parlaments­wahl will das iranische Regime nichts dem Zufall überlassen. Kandidaten aus dem Reformlage­r wurden ausgeschlo­ssen.

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