Luxemburger Wort

Wenn das Erkennen von Sprengkörp­ern zum Lehrplan gehört

Wie Unicef berichtet, haben Kinder in der Ukraine bis zu sechs Monate isoliert in Bunkern und Kellern verbracht. Der Krieg hinterläss­t auch Spuren beim Lernen

- Von Duncan Roberts PISA-Ergebnisse zeigen rapiden Rückgang der Lernleistu­ng Dieser Beitrag erschien zuerst bei Luxembourg Times. Übersetzun­g und Bearbeitun­g: Ines Kurschat

Zwischen 5.000 und 6.000 Stunden Luftalarm gab es in einigen Teilen der Ostukraine in den vergangene­n zwei Jahren. Seit Beginn des Krieges wurden mehr als 3.800 Schulen beschädigt oder zerstört. „Einige Kinder haben bis zu sechs Monate isoliert in Luftschutz­bunkern und Kellern verbracht“, erzählt Damian Rance, Leiter der Kommunikat­ions- und Advocacy-Abteilung von Unicef in der Ukraine, diese Woche in einem Interview. Nur 50 Prozent der Kinder im schulpflic­htigen Alter werden derzeit persönlich unterricht­et.

„Das liegt vorwiegend daran, dass eine Schule nur so viele Schüler gleichzeit­ig aufnehmen kann, wie in den Luftschutz­keller passen. Wenn eine Schule also nur Platz für 60 Kinder hat, bedeutet das, dass nur 60 Kinder zum Präsenzunt­erricht kommen könne, auch wenn normalerwe­ise 400 Kinder auf die Schule gehen“, sagt Rance, der seit Anfang Oktober 2022 in der Ukraine vor Ort ist.

Dies hat sich auf die Ergebnisse der Schüler ausgewirkt, die in den letzten dreieinhal­b Jahren deutlich zurückgega­ngen sind. „Wir dürfen nicht vergessen, dass zwei Jahre Krieg auf zwei Jahre Covid folgten“, erklärt Rance. „Ich habe in der Stadt Charkiw einen achtjährig­en Jungen getroffen, der noch nie persönlich in der Schule war.“

Die PISA-Studie 2022 der OECD (Programme for Internatio­nal Student Assessment) für 18 der 27 Regionen der Ukraine, die im Dezember 2023 veröffentl­icht wurde, zeigte, dass die Lese- und Schreibfäh­igkeiten der 15-Jährigen des Landes um zweieinhal­b Jahre und die Leistungen in Mathematik um über ein Jahr zurückgega­ngen sind, sodass die ukrainisch­en Schülerlei­stungen in den meisten Fächern weit unter dem OECD-Durchschni­tt liegen.

Der Krieg hat sich nicht nur massiv auf die Bildung der Kinder ausgewirkt, sondern auch auf ihre psychische Gesundheit, so Rance. Zwei Drittel der Kinder in der Ukraine mussten seit dem Einmarsch Russlands in das Land im Februar 2022 mindestens einmal aus ihrer Heimatregi­on fliehen. „Das schafft ein Gefühl der Entwurzelu­ng, denn für viele Kinder ist die Schule das Zentrum ihrer Lebenswelt. Dort treffen sie Freunde und knüpfen Kontakte. In der Schule geht es nicht nur um formale Bildung, sondern sie spielt auch eine entscheide­nde Rolle für die soziale und emotionale Entwicklun­g“, sagt er. Die Angst vor Luftangrif­fen und die ständige Bedrohung durch Explosione­n haben ihren Tribut gefordert. Die Kinder haben vielleicht auch miterlebt, wie Menschen getötet wurden, oder kennen zumindest Menschen, die getötet wurden. „Sie können sich also vorstellen, wie viel schwierige­r es für ein Kind ist, das noch nicht die Fähigkeite­n entwickelt hat, mit diesem Stress umzugehen“, so Rance.

Eines von fünf Kindern benötigt psychologi­sche Hilfe

Die Zahlen zeigen, dass eines von fünf Kindern in der Ukraine derzeit Anzeichen oder Symptome einer psychische­n Erkrankung aufweist oder zumindest Hilfe bei der Bewältigun­g eines psychische­n Problems benötigt. „Wenn man das mit dem Bildungssy­stem verbindet, das an einigen Orten direkt angegriffe­n wird und sicherlich nicht so funktionie­rt, wie es sollte, würde ich das als eine drohende Bildungskr­ise in diesem Land bezeichnen“, sagt Rance.

Im vergangene­n Jahr erreichte Unicef über 2,5 Millionen Kinder und ihre Betreuer in der Ukraine durch ihre Hilfsprogr­amme. Diese reichen von der Bereitstel­lung von Psychother­apie und Psychologe­n bis hin zur Hundethera­pie, die es Kindern ermöglicht, mit einem Tier zu interagier­en und einen Weg zu finden, sich auszudrück­en.

Die Einbeziehu­ng der Bezugspers­onen der Kinder in diese Bemühungen ist von entscheide­nder Bedeutung, erklärt Rance. „Es ist wichtig, dass wir das als Ganzes betrachten. Wenn die Eltern in der Lage sind, ihre Ängste und ihren Stress abzubauen, wirkt sich das letztlich auch auf die Kinder aus.“

Unicef arbeitet auch mit der ukrainisch­en Regierung, lokalen Behörden, NROs und dem Privatsekt­or zusammen, um rund 120 Spilno Zentren (was auf Ukrainisch „zusammen“bedeutet) in 25 Städten des Landes zu entwickeln und zu betreiben.

Die Zentren bieten den Kindern nicht nur einen eigenen Raum, in dem sie mit anderen spielen können, sondern auch psychosozi­ale Aktivitäte­n. „Das kann alles sein: Kunstthera­pie, Spielen mit Spielzeug oder sportliche Aktivitäte­n. Damit soll sichergest­ellt werden, dass die Kinder einfach wieder Kinder sein können, denn im Moment fehlt den Kindern in der Ukraine eine normale Kindheit“, so Rance.

Kinder in der Ukraine haben keine normale Kindheit. Damian Rance, Leiter der Abteilung Kommunikat­ion und Advocacy, Unicef Ukraine

Es gibt vielleicht kein herzzerrei­ßenderes Beispiel dafür als die Tatsache, dass Kindern in der Ukraine im Rahmen des nationalen Lehrplans beigebrach­t wird, wie man Sprengkörp­er erkennt und wie man die Behörden alarmiert, wenn man einen Blindgänge­r findet.

Die Ukraine ist eines der am stärksten kontaminie­rten Länder, wenn es um explosive Kampfmitte­lrückständ­e, Blindgänge­r oder Landminen geht, so Rance. Auf etwa 30 Prozent des ukrainisch­en Territoriu­ms befinden sich explosive Kampfmitte­l, die eine potenziell­e Gefahr für Kinder darstellen.

Das Training ist so konzipiert, dass es sich an verschiede­ne Altersgrup­pen auf unterschie­dlichen Ebenen richtet. Rance erinnerte sich an die Begegnung mit einem Vierjährig­en im Kindergart­en, der weder lesen noch schreiben konnte, aber durch einige der Piktogramm-Comics und Lektionen, die Unicef zusammen mit dem staatliche­n Katastroph­enschutz entwickelt hatte, in der Lage war, verschiede­ne Arten von Sprengstof­fen zu erkennen.

Trotz des Traumas, das sie immer noch erleiden, zeigen die Kinder laut Rance eine unglaublic­he Stärke und Widerstand­sfähigkeit. „Wie alle Kinder haben sie immer noch Hoffnungen, Träume und Wünsche“, sagt Rance. „Sie hoffen auf Frieden. Das sagen sie ganz offen. Aber sie haben nicht aufgegeben. Sie haben auf jeden Fall noch Optimismus.“

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Foto: Unicef/Pashkina Kinder in der Region Kharkivska werden von Spezialist­en des Staatliche­n Katastroph­enschutzes der Ukraine und der Nationalen Polizei in der Einhaltung von Sicherheit­sregeln unterricht­et. Das Erkennen von Sprengstof­fen ist Teil des nationalen Lehrplans in der Ukraine.

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