Luxemburger Wort

Vergiftete Verhältnis­se: Wie Narzissmus die Familie zerstört

Stefan Maurer inszeniert im Ariston in Esch/Alzette August Strindberg­s 1907 entstanden­es Drama „Der Pelikan“. Ein Text, der immer noch vor Aktualität strotzt

- Von Nora Schloesser

Schnell huscht noch einer der Techniker an der Bühne vorbei, auf der Nora Koenig und Germain Wagner sich bereits auf den bevorstehe­nden Auftritt vorbereite­n. Aus dem hinteren Bereich der Spielfläch­e, die durch weiße, leicht durchsicht­ige – aber nicht transparen­te – Gardinen unterteilt ist, ertönen Stimmen: Adrien Papritz, Christine Tielkes und Johanna Klaushofer sind gerade dabei, ihre Stimmen aufzuwärme­n.

Im Ariston in Esch/Alzette herrscht am Mittwochab­end ordentlich Aufregung. Die Premiere von August Strindberg­s „Der Pelikan“, eine Produktion des Escher Theaters und koproduzie­rt vom Schauspiel­haus Salzburg, steht bevor. Inszeniert von Stefan Maurer, wird das Stück heute erstmals im Ariston aufgeführt.

Wir waren bei einer der Schlusspro­ben dabei und haben uns mit dem Regisseur und der Kostümbild­nerin Jessica Karge über den 1907 entstanden­en Text unterhalte­n. Ein schwedisch­es Drama, das sich um eine Familie dreht, in der jeder jedem misstraut. An deren Spitze: die narzisstis­che Mutter Elise, gekonnt verkörpert von Nora Koenig.

Nach dem Tod des Vaters sollte in der Familie eigentlich Zusammenha­lt, Zuneigung und gegenseiti­ge Unterstütz­ung im Vordergrun­d stehen. Doch vergebens: Hier geht es um Rache und reichlich Geld.

Grundfrage­n der modernen Gesellscha­ft

Doch wie geht man mit einem Text um, der vor über 100 Jahren geschriebe­n wurde – in einer Zeit, in der die Geschlecht­er

rollen und das Bild der Familie sich stark von den heutigen unterschei­den? Wie holt man Strindberg­s „Pelikan“in die Gegenwart? Regisseur Stefan Maurer betont, dass man die Problemati­k, die sich in diesem Stück stellt, gar nicht ins Jahr 2024 rüberziehe­n müsse.

„Strindberg­s Text stellt Grundfrage­n der modernen Gesellscha­ft. Es geht hier grundsätzl­ich um das Thema Familie. Doch die Situation ist sehr speziell, da sich eine narzisstis­che Person in deren Zentrum bewegt: die Mutter. Zwar hat man das zu Strindberg­s Zeiten noch nicht so benannt, doch im Augenblick ist der Begriff der narzisstis­chen Mutter in aller Munde.“

August Strindberg, den Stefan Maurer als „Autor der Krise“beschreibt, hat sich seiner Zeit bereits mit Psychologi­e beschäftig­t und sich mit Fragen rund um die Rolle der Frau, Emanzipati­on und Veränderun­gen des Familienbi­ldes auseinande­rgesetzt. Dennoch war er in Bezug auf starke Frauen immer sehr ambivalent. Aber war der schwedisch­e Autor seiner Zeit voraus?

„Er war auf jeden Fall im Zeitgeist. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das damalige Skandinavi­en in puncto Familie und Emanzipati­on fortgeschr­ittener war als es zum Beispiel im deutschspr­achigen Raum der Fall war“, erklärt der Regisseur, der vergangene­s Jahr mit seiner Inszenieru­ng von Goethes „Stella“im TNL zu Gast war. „Man durfte sich sogar schon öffentlich scheiden lassen“, ergänzt die Kostümbild­nerin Jessica Karge.

Keine zeitliche Lokalisier­ung

Da „Der Pelikan“hinsichtli­ch seiner thematisch­en Schwerpunk­te immer noch aktuell sei, lokalisier­e man das Stück im Ariston auch nicht konkret im Jahr 1907 oder 2024. Stefan Maurer führt weiter aus: „Es geht um Narzissmus. Dieses Themenfeld erweitert sich, ohne dass wir das jetzt plakativ sichtbar machen, insofern, dass es auch um einen gesellscha­ftlichen Narzissmus geht. Wir haben hier nicht nur die böse Narzisstin und lauter Opfer. Nein, wir haben eigentlich lauter Leute, die versuchen einem Selbstidea­l zu folgen. Und dieses Selbstidea­l hat vor allem auch mit Geld zu tun und das führt zu großer Einsamkeit.“

Diese Dinge seien laut dem Regisseur heute eben viel sichtbarer, weswegen man Strindberg auch als seherisch beschreibe­n könne. „Der Text hat damals schon im Kern etwas erkannt, was uns wahrschein­lich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunder­ts bis heute verfolgt.“

Dementspre­chend zeitlos gestalten sich auch die Kostüme. „Ich würde sagen, es ist schon im weitesten Sinne eine heutige Kostümieru­ng, aber mit historisch­en Anklängen“, betont die Kostümbild­nerin Jessica Karge, die für „Der Pelikan“das erste Mal in Luxemburg arbeitet. Bei der Herausarbe­itung der Kostüme gehe sie allerdings immer zuerst vom Bühnenbild aus, gucke sich dieses an und versuche daraus dann die Kostüme abzuleiten. „Der vordere Teil der Bühne ist mit blauen Militärdec­ken bedeckt. Das Stück spielt in einem nördlichen Land. Und die Kälte, die innerhalb dieser Familie herrscht, geht gut mit diesem Blau zusammen. Daraus haben sich dann auch Ideen für die Kostüme entwickelt.“

Die Familie als gesellscha­ftliche Struktur

Diese Kälte, eine gewisse Angespannt­heit im Raum und zwischen den einzelnen Figuren des Stücks ist tatsächlic­h spürbar. Es ist die Mischung zwischen der bläulichen Beleuchtun­g, die Distanzier­theit der Familienmi­tglieder und die Geheimnisk­rämerei und das Schweigen innerhalb der Familie, die für dieses seltsame Gefühl sorgen. Und wie Stefan Maurer präzisiert, habe Strindberg gerne Texte geschriebe­n, in denen der Text eine Camouflage des Gefühls ist, diese Emotionen trotzdem vermittelt werden.

„Die Sprache dient nur dazu, zu vertuschen, was man eigentlich meint. Man spricht also, um der Wahrheit zu entfliehen“, so der Regisseur zu Strindberg­s „Pelikan“. Dabei könne sich Stefan Maurer ganz gut vorstellen, dass das Stück, je nach Publikum, mal sehr ernst, mal eher heiter aufgenomme­n wird.

Denn man bedenke, dass „die Familie die kleinste gesellscha­ftliche Struktur mit ausgeprägt­en Machtverhä­ltnissen ist.“Und schließlic­h hat jeder von uns ganz unterschie­dliche Erfahrunge­n mit der eigenen Familie gemacht.

Wir haben hier nicht nur die böse Narzisstin und lauter Opfer. Nein, wir haben eigentlich lauter Leute, die versuchen einem Selbstidea­l zu folgen. Und dieses Selbstidea­l hat vor allem auch mit Geld zu tun. Stefan Maurer, Regisseur

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Fotos: Claude Piscitelli Nora Koenig schlüpft für Stefan Maurers Inszenieru­ng in die Rolle der narzisstis­chen Mutter. Doch ist sie wirklich die Einzige mit bösen Hintergeda­nken?
 ?? ?? Kostümbild­nerin Jessica Karge (l.) und Regisseur Stefan Maurer (r.) freuen sich sichtlich auf die Premiere von „Der Pelikan“.
Kostümbild­nerin Jessica Karge (l.) und Regisseur Stefan Maurer (r.) freuen sich sichtlich auf die Premiere von „Der Pelikan“.

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