„Ich möchte nicht auf einem Podest stehen“
Gesundheits- und Sozialministerin Martine Deprez (CSV) schildert die Herausforderungen ihrer Ressorts. Die Pensionsdebatte beginnt im Herbst
Martine Deprez saß in der Arbeitsgruppe zur Sozialversicherung in den Koalitionsverhandlungen. Die medizinischen Dossiers kennt sie aus dem Staatsrat. Beide Ressorts stehen vor großen Herausforderungen, vor allem im Bereich der Digitalisierung und wegen der demografischen Entwicklung.
Martine Deprez, Sie haben sich mittlerweile eingearbeitet. Was war die größte Überraschung?
Ich bin erstaunt darüber, welchen Unterschied es macht, wie man auf die Leute zugeht. Für mich war es normal, die Runde durch das Haus zu machen und jedem Hallo zu sagen. Mir schlug eine Welle von Sympathie entgegen, weil man das nicht gewohnt war. Überrascht hat mich auch, dass ich zunächst in Watte gepackt und vor verschiedenen Sachlagen verschont werden sollte. Ich bin eher ein Mensch, der direkt anpackt, mitarbeitet und mitzieht und da brauche ich jeden auf Augenhöhe. Ich möchte nicht auf einem Podest stehen.
Und von den Dossiers her?
In der Sozialversicherung kenne ich den Unterbau, in der Gesundheit kannte ich verschiedene Dossiers aus dem Staatsrat, aber das war nur die Spitze des Eisbergs. Erst wenn man „auf das Terrain“geht, merkt man, wie schwierig dieses in Texte zu fassen ist. Man kann nicht alles regeln, besonders die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht.
Und was wird die größte Herausforderung?
Die Bedürfnisse im Sektor direkt zu erkennen und darauf zu reagieren. Bodenständig und ich selbst zu bleiben.
Das ist die Form, wie ist es bei den Inhalten?
Wenn man will, dass der Patient das bekommt, was er braucht und dass der Versicherte nicht durch ein Loch im Netz fällt, muss alles ineinandergreifen. Die digitale Wende ist auch eine große Herausforderung – damit hier keiner auf der Strecke bleibt.
Die Kenntnisse sind sehr unterschiedlich. Ich kann beispielsweise meine Eltern mit über 80 Jahren nicht mit einer App auf dem Handy zum Arzt schicken.
Sie haben in den letzten Tagen die Runde der Krankenhäuser gemacht – welche Anliegen wurden vorgetragen?
Überall wurde die Personaldotation angesprochen, überall würde man gerne mehr Personal einstellen, weiß aber nicht, wie man dann finanziell noch über die Runden kommt. Insofern ist es gut, dass Gesundheit und Sozialversicherung nun in einer Hand liegen – der, der Mittel braucht, und der, der sie gibt.
Und der Personalmangel?
Ich habe keine Klagen gehört, dass Posten nicht besetzt werden können, außer für ganz spezifische Berufe.
Wenn man im internationalen Vergleich schaut, hat Luxemburg mit die höchste Personalzahl pro Bett und doch wird über eine hohe Belastung gerade bei der Arbeit am Bett geklagt. Sehen Sie Effizienzprobleme?
Die Arbeitsbedingungen des Personals – das ist unsere größte Herausforderung für die nächsten Monate. Ich höre vom Pflegepersonal, dass sie nicht genug Zeit haben, sich um den Patienten zu kümmern und zu viel mit Bürokratie und Organisation aufgehalten werden. Auf der anderen Seite höre ich, dass nicht genug Mittel da sind, um mehr Personal einzustellen. Wir sind dabei, herauszufinden, wie der Bedarf von jedem besser gedeckt werden kann. Ich sehe jedenfalls, dass viele den Sektor verlassen, um keine Schichtdienste mehr machen zu müssen oder nicht zu viele Tage hintereinander arbeiten zu müssen. Der Druck würde sinken, wenn Ressourcen, die jetzt mit administrativen Arbeiten belegt sind, freigemacht werden könnten.
Verfolgen Sie die Idee weiter, dass nicht mehr jedes Spital alles anbieten soll, wie es bei der Krankenhausplanung angedacht war?
Grundsätzlich sieht das Regierungsprogramm nicht vor, die Verteilung der nationalen und spezialisierten Abteilungen auf den Kopf zu stellen, ich habe auch keine entsprechende Forderung vom Sektor gehört. Spannend finde ich die Geschichte des Herzzentrums INCCI, das als Exzellenzzentrum mittlerweile Experten aus dem Ausland anzieht. Vielleicht bekommt man das auf anderen Gebieten auch hin.
Die ambulante Wende bereitet dem Spitalsektor Sorgen, während die Ärzteschaft darauf wartet, mehr Dienstleistungen außerhalb der Spitäler anbieten zu können. Wie sieht es um das Thema aus?
Es besteht das Gesetz vom Juli 2023 (zur Auslagerung von Aktivitäten in Spitalantennen, A.d.R.). Auf dessen Basis liegt bislang nur ein formeller Antrag vor – der des CHL für eine nicht-chirurgische Tagesklinik mit Mammografie und Onkologie in Grevenmacher. Der Anreiz, die vier legal möglichen Angebote (Dialyse, Radiodiagnostik, leichte chirurgische Eingriffe und onkologische Behandlungen, A.d.R.) auszulagern, ist gering – wer kein Spital findet, das seine Initiative mitträgt, bleibt auf dem Projekt sitzen. Das ist keine gesunde Situation. Man muss jetzt prüfen, ob der Elan durch das Gesetz gebremst wird.
Im Regierungsprogramm steht, dass das Gesetz überarbeitet werden soll.
Wir können aber in den ersten 100 Tagen nicht etwas infrage stellen, was über fünf, zehn Jahre angedacht war. Der Rahmen hätte so gesetzt werden müssen, dass der, der extern etwas anbieten möchte, Auflagen bekommt. Zum Beispiel sich am Dienstsystem zu beteiligen oder jeden Patienten annehmen zu müssen, unabhängig von dessen finanzieller Situation, oder keinen unlauteren Wettbewerb zu machen, indem dem Personal versprochen wird, nur von acht bis 16 Uhr arbeiten zu müssen. Auch muss die Qualität der medizinischen Aktivität den Normen ent
: Lasst uns als Gesellschaft darüber diskutieren, was wir unserer älteren Bevölkerung unbedingt garantieren wollen, damit sie mit Gelassenheit ihr Alter leben kann.
sprechen, die im Spital gelten. Ich höre jetzt zu und dann müssen wir zusammen herausfinden, welche Angebote ohne Krankenhausbeteiligung gemacht werden können. Mit der Garantie, dass der Kontakt mit einem Spital besteht, damit der Patient idealerweise zu jedem Moment dorthin überwiesen werden kann, um seine Sicherheit zu garantieren.
Was stellen Sie sich vor?
Eine Regelung innerhalb des Spitalsgesetzes sehe ich hier nicht. Aber es könnte ein Kapitel in einem Gesetz sein, das sich um die spitalsmäßige Versorgung und die gleitenden Übergänge dreht. Darunter fällt auch die Hospitalisierung zu Hause – ob im Rahmen einer Nachsorge oder von Leistungen eines externen Anbieters zu Hause beim Patienten. Es schwebt mir vor, diese Schnittstellen in einem Gesetz zu regeln, um die Rundumversorgung zu garantieren.
Die elektronische Patientenakte ist bislang kein großer Erfolg und wird wenig genutzt. Was sehen Sie vor?
Das Dossier de Soins Partagé DSP entstand aus der Logik, dass die Daten extrem sicher sein müssen und dass jeder selber entscheiden kann, ob er es eröffnet oder nicht, welchem Gesundheitsprofessionellen er Zugang gibt und welchem nicht, dazu kann auch der Professionelle selber noch entscheiden, ob er es nutzt oder nicht. Es sind so viele Ausschlussmöglichkeiten gegeben, bis das Dossier operabel ist, dass schlecht vorauszusehen ist, ob es je funktionieren wird. Die Agence eSanté, wo ja nun neue Leute das Sagen haben, sieht selber, dass es so wie das DSP jetzt aufgestellt ist, nicht viel Wert hat. Es wird über ein DSP der zweiten Generation nachgedacht, um alle Leute mitzunehmen, aber wie das konkret aussieht, kann ich noch nicht sagen.
Das System ist auch extrem schwerfällig, weil die Daten als PDF hochgeladen werden.
Das soll ganz verschwinden, das bringt gar nichts. Das nenne ich auch nicht Digitalisierung und DSP. Das ist nur den Schein erwecken, als hätte man anstelle von Papier digitalisiert. Die Patientenakte – das müssen strukturierte, informatisch verarbeitete Daten sein.
Und wie geht es mit der direkten Rückerstattung von Arztrechnungen weiter?
Das Modul steht bereit für die Hausärzte, scheint aber nicht wirklich genutzt zu werden. Wir sehen, dass jede Woche Ärzte dazukommen, aber es fehlt eine systematische Förderung davon. Die Ärzteschaft ist ganz unterschiedlich digitalisiert – die jungen eher als die älteren, die noch viel mit Papier arbeiten. Ich setze darauf, dass die Patienten aktiver werden – solange der Patient keinen Druck macht, wird keine Dynamik entstehen.
Wie steht es um das Pandemiegesetz?
Wir sind uns einig, dass ein Pandemiegesetz alleine nicht reicht, sondern das Gesetz zur öffentlichen Gesundheit, das recht alt ist, überarbeitet werden muss. Denn wir wussten in der Pandemie nicht, wer für was zuständig ist und konnten das System nicht direkt hochfahren. Auch die Pandemie-Vorstufen müssen geregelt werden – es müssen viele kleine Rädchen geschaffen werden. Ich schaue mir natürlich an, was schon ausgearbeitet ist und dann bauen wir aus.
Werden die Covid-Maßnahmen evaluiert?
Die Pandemie habe ich persönlich aus verschiedenen Blickwinkeln erfahren – von der Schulseite, der Staatsratseite, von der Familie aus. Entscheidungen mussten meinem Gefühl nach aus der Situation heraus getroffen werden und ich finde es als Wissenschaftlerin extrem schwierig, im Nachhinein auf wissenschaftlicher Basis zu bewerten, ob das ein oder andere sein musste oder nicht. Man kann sich nicht noch einmal in diese Situation versetzen, man kann auch nicht Jahre später herausfinden, was passiert wäre, wenn die Masken drei Wochen früher aufgesetzt worden wären, die Restaurants doch geöffnet geblieben wären oder die Ausgangssperre nicht eingeführt worden wäre. Wie und mit welchem Dispositiv analysieren wir das? Man musste sich auf die Daten der Wissenschaftler verlassen und konnte ja auch anhand der Infektionszahlen feststellen, welche Maßnahmen griffen. Was die Schäden, wie Impfschäden, anbelangt: Sie werden erfasst.
Die Diskussion um eine Pensionsreform ist entfacht – mitten im Sozialwahlkampf – und wird recht emotional geführt. Wie geht es jetzt weiter?
Nach den Sozialwahlen kommt das Gutachten des Wirtschafts- und Sozialrats und im Herbst werden wir die Diskussionen beginnen. Ich habe in der Chamberkommission beim Vorstellen des Regierungsprogramms drei Sätze gesagt: Wir führen eine breite Diskussion, um einen breiten Konsens zu finden; das System steht auf wackligen Beinen; und wir müssen über die ganze Architektur reden und nicht nur das allgemeine Pensionssystem. Das kann ein Verschieben der Formel sein, das bewirkt, dass die Rentner eine bessere Allgemeinversorgung bekommen und die, die es sich leisten können und damit in ihren Augen nicht genug bekommen, können sich eine zweite und dritte Säule aufbauen. Mit Betonung auf die, die es sich leisten können. Das einzige, was von verschiedenen Abgeordneten gehört wurde, war: Wir kürzen die Renten und alles muss über die Eigen- und Betriebsvorsorge laufen. Das war so nicht gesagt worden. Ab und zu hört man eben nur, was man hören will und jeder pocht auf sein Hoheitsgebiet. Meine Botschaft ist: Lasst uns als Gesellschaft darüber diskutieren, was wir unserer älteren Bevölkerung unbedingt garantieren wollen, damit sie mit Gelassenheit ihr Alter leben kann. Genauso müssen wir uns fragen, was ein junger Mensch in Luxemburg braucht, um vollwertig ins Leben starten zu können. Ich vermisse diese großen, gesellschaftsübergreifenden Debatten. Wir tun uns leider schwer damit.
: Ich habe keine Klagen gehört, dass Posten nicht besetzt werden können, außer für ganz spezifische Berufe.